Gina Mayer: Zitronen im Mondschein -“ Roman

Gina Mayer: Zitronen im Mondschein ’“ Roman, Berlin 2009, Gustav Kiepenheuer/Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, ISBN 978-3-378-00691-1. Hardcover mit Schutzumschlag, 522 Seiten, Format: 13 x 22 x 4,4 cm, EUR 19,95.

CoverZitro-scan

Vellberg im Hohenlohischen, 1904: die 18-jährige Maria Schwarz hat es satt, die geprügelte Tochter einer geprügelten Mutter zu sein. Und sie hat auch keine Lust, die geprügelte Mutter geprügelter Kinder zu werden. Als der Wanderzirkus Lombardi nach Vellberg kommt, verlässt Maria heimlich den elterlichen Hof und brennt mit der Zirkustruppe durch.

Ausschlaggebend für den Entschluss ist, dass ihr die Wahrsagerin des Zirkus, Madame Argent, schon einmal in einer ’žVision’œ erschienen ist. Diese Erscheinung wollte Maria etwas geben. Ein Geschenk? Eine Gabe? Ein neues Leben? Maria weiß es nicht, denn dummerweise bleiben ihre Visionen recht vage und kryptisch in ihren Aussagen.

Madame Argent, deren wirklicher Name längst in Vergessenheit geraten ist, und ihr Mitarbeiter, der kleinwüchsige Mirko, nehmen Maria bei sich auf. Dort lernt sie das ’žWahrsagen’œ, das nichts mit Übersinnlichem aber vieles mit Psychologie, Beobachtungsgabe und ein paar unterstützenden Tricks zu tun hat. Nach dem Tod von Madame Argent im Winter 1905 tritt Maria in ihre Fußstapfen. Und sie geht eine Beziehung mit Ludwig Wunder ein, einem talentierten Maler aus Stuttgart, der als Helfer beim Zirkus sein Geld verdient.

Im Frühjahr schmieden Ludwig und Maria Heiratspläne. Das Aufgebot ist bestellt, da hat Maria erneut eine Vision. Die verstorbene Madame Argent verstört sie mit einer rätselhaften Botschaft: ’žEs ist etwas in dir, das ihm den Tod bringt’œ ’“ ’žEs ist etwas in mir …? Was soll das heißen?’œ Marias Stimme zitterte. ’žWas soll ich tun?’œ ’“ ’žDu weißt, was du tun sollst. Geh deinen Weg, Maria.’œ (S. 180) Maria interpretiert das als Warnung: Eine Ehe mit ihr wäre Ludwigs Tod. Also zieht sie die Konsequenzen und trennt sich von ihm. Damit nimmt das Unglück seinen Lauf ’“ für alle Beteiligten.

1914 haust Ludwig in Berlin in einer Dachkammer und schlägt sich mit Auftragsarbeiten durch. Als er bei einem Auftrag um die Hälfte seines Lohns geprellt wird, steht er mit dem Rücken zur Wand. Er verabschiedet sich von der Künstlerszene und meldet sich freiwillig an die Front. Mit dem heroisch-theoretischen Geschwafel von Krieg und Gewalt, wie er es von den Künstlern im ’žRomanischen CafË’œ oft gehört hat, haben seine Kriegserlebnisse wenig zu tun. Nach Flandern ist er ein gebrochener Mann ’“ und nach einem Heimaturlaub ein Deserteur.

Auch Maria hat es kein Glück gebracht, auf die Vision zu hören: Sie hat eine Tochter von Ludwig, von der er nichts ahnt. Als der Zirkus finanziell am Ende ist und sie nicht weiß, wie sie die kleine Mirabella durchbringen soll, hört sie ein weiteres Mal auf eine ihrer Erscheinungen und bringt das Mädchen für die Dauer des Krieges in ein katholisches Waisenhaus. Das zumindest ist ihr Plan …

Für die Achtjährige ist das Leben bei den Nonnen die Hölle. Mit den Regeln kommt sie nicht zurecht, in der Schule kommt sie nicht mit und bei den anderen Kindern findet sie keinen Anschluss. Ein Fluchtversuch scheitert und dem Ehepaar Anschütz, das sie adoptieren möchte, kann sie es auch nicht Recht machen. Die ganze Zeit über fragt sich das verzweifelte Mädchen, warum ihre Mutter und Mirko sie nicht abholen. Dass die Zirkusleute genau dies vergeblich versucht haben, erfährt sie nicht.

Als Maria eines Tages herausfindet, wo ihre Tochter lebt und sie bei ihrer Adoptivfamilie in Düsseldorf aufsucht, ist Mirabella bereits 13 Jahre alt und will mit ihrer Mutter nichts mehr zu tun haben. Billig, vulgär und ein bisschen verrückt kommt ihr die Mutter vor. Hat Maria sich verändert oder Mirabella?

Das Mutter-Tochter-Verhältnis bleibt gestört, auch als Mirabella, die sich inzwischen Mira nennt, erwachsen ist. 1926 ist Mira befreundet mit der ehrgeizigen Schneiderin Gudrun, liiert mit dem Kino-Pianisten und Kommunisten Anselm und arbeitet in Düsseldorf als Serviermädchen. Wer ihr Vater ist, weiß sie nicht. Ihre Mutter Maria erlebt sie als unzuverlässig und aufdringlich: eine schrille Person mit Hirngespinsten, die sich nur dann für die Tochter interessiert, wenn sie Geld braucht.

Inzwischen hat Ludwig Wunder erfahren, dass er mit Maria ein Kind hat. Er lebt seit Jahren im Ausland und hat Maria nie vergessen. Wieder einmal nutzt er seine internationalen Kontakte, reist nach Düsseldorf, mietet sich in einer bizarren Wohnsiedlung ein und macht sich auf die Suche nach seiner Tochter. Mira weiß nicht, dass ihr Vater in der Stadt ist. Umso irrsinniger klingt für sie die neueste Vision ihrer Mutter …

Ob Maria Schwarz tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten besitzt, zu viel Phantasie oder eine psychische Störung hat, bleibt offen für Interpretationen. Tatsache ist, dass sie in ihrem naiven Aberglauben ihr ganzes Leben nach den Botschaften aus ’ždem Jenseits’œ oder ’ždem Himmel’œ ausgerichtet hat. Da diese Botschaften einigen Auslegungsspielraum lassen, trifft Maria die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens auf einer denkbar unsicheren Basis. Mit zum Teil verheerenden Folgen für sich und ihre Mitmenschen.

Für Tochter Mira ist klar: Mutter spinnt. Zirkus-Kollege Mirko, offen für Spirituelles, hält Marias Visionen für echt, nur ihre Interpretationen für falsch. Doch das spielt für ihn keine Rolle: Seinem Schicksal kann man ohnehin nicht entrinnen. Eine echte Prophezeiung wird sich auf die eine oder andere Weise erfüllen.

Auch wenn Maria, Ludwig und Mira zu wenig von einander erfahren um einander wirklich zu verstehen: Für den Leser, der die Hauptpersonen abwechselnd durch ihr Leben begleitet, ergibt sich ein vollständiges Bild der Geschichte.

Es ist tragisch, wie wenig es braucht, um ein Leben zu ruinieren. Mitreißend, wie Mutter, Vater und Tochter sich trotz widriger Umstände durchs Leben wursteln und sich auch von dramatischen Rückschlägen nicht entmutigen lassen. Und spannend, ob jetzt, nach all den verlorenen Jahren, die ersehnte Familienzusammenführung zustande kommt. Man würde allen dreien ein glückliches Wiedersehen gönnen …

’žZitronen im Mondschein’œ ist mehr als ein fesselnder Familienroman. Als historischen Roman darf man dieses sorgsam recherchierte Werk nur zum Teil bezeichnen, da aus unerfindlichen Gründen alles, was ab dem Jahr 1914 spielt, nicht mehr in diese Rubrik fällt. Auf jeden Fall ist es ein faszinierender Gesellschaftsroman, der uns die politischen Wirren und die schillernde Kunstszene der 20-er Jahre lebendig vor Augen führt. Bekannte Künstler des Expressionismus und Dadaismus kreuzen als Nebenfiguren Ludwig Wunders Weg. Und auch Miras Agitprop-Theatergruppe und die Anarchosyndikalisten-Siedlung, in der Ludwig Unterschlupf findet, hat es tatsächlich gegeben.

Die 20-er Jahre sind eine Ära, an der man sich noch nicht ’žsatt gelesen’œ hat und die noch interessante Entdeckungen bietet. Das wäre noch ein weiterer Grund, diesen ungewöhnlichen Roman zu lesen.

Die Autorin
Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Bevor sie freie Autorin wurde, hat sie als Werbetexterin gearbeitet. Mit ’žDie Protestantin’œ und ’žDas Medallion’œ hat sie zwei sehr erfolgreiche historische Romane veröffentlicht.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert