Nicholas Christopher: Eine Reise zu den Sternen – Roman

Nicholas Christopher: Eine Reise zu den Sternen, OT: A Trip to the Stars, Übersetzung: Piciao und Roberto de Hollanda, München 2011, dtv, Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21312-7, Softcover, 670 Seiten, Format: 12 x 19 x 3,5 cm, EUR 9,95 (D), EUR 10,30 (A)

„Liebe Alma,
Es ist schwer, aber besser für uns beide, und ich will Dir sagen, daß alles okay ist und daß ich gehe, weil ich es will.
In Liebe, Loren“(Seite 504)

Brooklyn 1965: Loren Haris, 9 Jahre alt, ist schon zum zweiten Mal verwaist. Nach dem Tod seiner leiblichen Eltern sind nun seine Adoptiveltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Jetzt lebt er bei seiner Adoptivgroßmutter. Nach deren plötzlichem Tod hat er nur noch eine einzige Angehörige: Alma Verell, die jüngere Schwester seiner Adoptivmutter, die er nur von Besuchen her kennt, da sie auswärts studiert.

Auf einmal hat die 21-jährige Studentin die Verantwortung für einen elternlosen Jungen und fragt sich verzweifelt, wie sie das alles stemmen soll – schon allein finanziell. Doch Ängste und Sorgen hin oder her, Lauren soll einen schönen 10. Geburtstag verleben: Alma lädt ihn zu einem Planetariumsbesuch ein. Als das Programm „Eine Reise zu den Sternen“ zu Ende ist und sie gehen wollen, wird Alma für einen Moment abgelenkt, und schon ist Loren verschwunden. Eine fremde Frau hat nach seiner Hand gegriffen. Erst glaubt er an eine Verwechslung, doch als sie ihn gewaltsam in ein Auto verfrachtet und zu einem verlassenen Fabrikgebäude bringt, ist ihm klar, dass die Lage ernst ist. Sie hat ihn entführt!

In der Fabrikhalle trifft er auf einen alten Herrn, der sich ihm als sein Großonkel Junius Samax vorstellt. Loren Haris sei der Sohn seiner verstorbenen Nichte Bel und hieße in Wirklichkeit Enzo Samax.

Der vermögende Großonkel – ein Immobilienspekulant und Kunstsammler – der ein Hotel in Las Vegas besitzt, in dem Wissenschaftler und Experten aller erdenklicher Couleur ein- und ausgehen, verspricht, für den Jungen zu sorgen und ihm eine erstklassige Ausbildung angedeihen zu lassen. Loren/Enzo erkennt, dass er Alma und er besser dran sind, wenn darauf eingeht. Für ihn ist das Angebot des Onkels die große Chance und Alma kann unbelastet ihre eigene Ausbildung fortsetzen.

Gemeinsam mit Onkel Junius schreibt der Junge einen Brief an seine Tante, in der er ihr die Situation erklärt. Doch dieser Brief erreicht sie nie, und so vergehen 15 Jahre, bis sie sich wiedersehen. Jahre, in denen die absurdesten und irrwitzigsten Dinge geschehen und die Wege der beiden sich kreuzen, ohne dass sie es wissen.

Nachdem die Polizei die Suche nach Loren eingestellt hat und auch Privatdetektive nichts herausfinden, lässt Alma ihr bisheriges Leben hinter sich. Sie bricht ihr Studium ab, verkauft das Elternhaus, ändert ihren Namen in Mala Revell und zieht rastlos durch die Lande. In New Orleans arbeitet sie kurzzeitig für den Pianisten und Spinnenforscher Zaren Eboli. Und nachdem er ihr erzählt, dass das Gift der Wüstenspinne Ummidia Stellarum „die menschliche Seele auf ihre wichtigsten Elemente reduziert und sie von allem läutert, was falsch, illusorisch oder furchtsam ist“ (S. 40), lässt sie sich absichtlich beißen. Fortan ist sie körperlich außergewöhnlich belastbar, hat ein exzellentes Gedächtnis und ist zeitweise in der Lage, die Gedanken ihrer Mitmenschen zu lesen.

Kriegsgegnerin Mala lässt sich zur Röntgenassistentin ausbilden und meldet sich freiwillig als Krankenschwester nach Vietnam. Auf dem Lazarettschiff verliebt sie sich in einen Patienten, den Luftwaffenkapitän Geza Cassiel, einen Navigator, dessen Schrapnellwunden im Rücken die gleiche Form haben wie eine Sternenformation in der Andromeda-Galaxie.

Dem Paar bleiben nur wenige Wochen. Als Geza als geheilt entlassen wird, kehrt er nach Guam zurück um neue Befehle in Empfang zu nehmen und Mala hört und sieht nichts mehr von ihm. Ihre Nachforschungen ergeben nichts. Das Militär bestreitet sogar, jemals etwas von Captain Geza Cassiel gehört zu haben.

Nach diesem zweiten schweren Verlust erleidet Mala einen Zusammenbruch und beschließt nach ihrer Entlassung aus dem Militärdienst, fortan nur noch auf Inseln zu leben. Auch wenn das in einen jahrelangen Selbstzerstörungstrip mündet, verliert sie nie ganz die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Loren und Geza Cassiel.

Unterdessen wächst Loren, der jetzt wieder seinen Geburtsnamen Enzo Samax trägt, bei Onkel Junius im Hotel Canopus auf. Für den reibungslosen Ablauf dort sorgt ein Frauenclan, bestehend Dolores, Della, Denise, Doris und Desiree. Eine Cousine namens Dalia gibt’s auch noch, aber die jagt Vampire. In Samax‘ Diensten steht ferner der Architekt Calzas, ein Zuni-Indianer, der so etwas wie ein Ersatzvater oder Ersatzbruder für Enzo wird.

Eine Schule besucht der Junge nicht. Er wird von seinem Großonkel unterrichtet sowie von einem der Dauergäste des Hotels, dem umfassend gebildeten Gedächtniskünstler Domeniko Labusi. Auch von seinem väterlichen Freund Calzas kann Enzo vieles lernen sowie das eine oder andere von den wissenschaftlichen Exoten, die sich im Hotel tummeln: Experten für Meteoriten, Atlantis, Vampire, Musik und Spinnen.

Musik und Spinnen? Ja, auch Zaren Eboli, Malas ehemaliger Arbeitgeber, hat mittlerweile den Weg ins Hotel Canopus gefunden. Und hätten nicht Loren und Alma inzwischen neue Namen, wäre vielleicht schon längst herausgekommen, dass Eboli ein gemeinsamer Bekannter der beiden ist.

In dieser exzentrisch-anregenden Atmosphäre wird Enzo groß. Das einzig Unangenehme in seinem neuen Leben ist seine Tante Ivy, eine Halbschwester seiner Mutter, die ihren Groll auf andere Anverwandte auf den Jungen projiziert und keine Gelegenheit auslässt, ihm ernsthaft zu schaden. Wie weit sie dabei zu gehen bereit ist, soll er noch erfahren.

Erst nach Jahren ergibt sich aus den Informationsbrocken, die Enzo über seine Familiengeschichte zusammengetragen hat, ein Bild. Und das ist nicht besonders schön: Aus Habgier und Missgunst haben drei einander spinnefeinde Männer und eine neidische Frau ein paar Intrigen gesponnen, die auch Generationen später noch verheerende Auswirkungen haben.

Immer noch bleiben Fragen offen. Tante Ivy könnte sie zwar beantworten, aber sie schweigt aus purer Bosheit. Als Enzo längst erwachsen ist, fällt ihm ein Brief in die Hände, den sein Vater vor Jahren an eine Geliebte geschrieben hat. Jetzt endlich hat er alle Puzzleteile zusammen – und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus …

Dieser Roman ist ein Familiendrama und eine Liebesgeschichte, eine Art Entwicklungsroman sowie eine gigantische Info-Dumping-Orgie, alle möglichen Themen betreffend: von Astronomie, Philosophie und Spinnen über Kunst, Musik und Krieg bis hin zu Religionen, Aberglaube und Botanik. Und er nimmt wenig Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit und Realität. Hier sind übersinnliche Kräfte am Werk, es gibt Vampire, einen Gestaltwandler, Engel, die aus einem brennenden Gebäude fliegen, ein Hund, der von den Sternen kommt und haarsträubende Zufälle, wie jener, der Enzo den Brief seines Vaters in die Hände spielt. Da sind wir dann auch noch bereit zu glauben, dass Mala Enzos tot geglaubte Großmutter zufällig auf Hawaii trifft.

Immer, wenn man etwas über Sterne oder Spinnen liest, sollte man hellhörig werden. Denn dann passiert wieder etwas Magisches und Unwahrscheinliches, das Malas und Enzos Leben miteinander verbindet.

Leser haben berichtet, dass sie bei „diesem übersinnlichen Schmonzes“ und all den abschweifenden Sachinformationen die Waffen gestreckt und das Buch weggelegt haben. Wer sich irgendwann sagt: „Okay, lieber Autor, wir pfeifen auf Logik und Wahrscheinlichkeit. Erzähl uns deine Geschichte, ganz egal, wohin sie führt“, der kann sich zurücklehnen und sich bei diesem kühn konstruierten Roman amüsieren wie bei einem wild fabulierenden Märchenerzähler auf dem Basar.

Ein bisschen emotional distanziert sind die beiden Ich-Erzähler, Enzo und Mala. Wir lesen von ihren Sorgen und Nöten, aber nicht immer fühlen wir mit ihnen. Anfangs, als Enzo noch klein ist, hat man gar ernsthafte Zweifel daran, dass der Junge das, was der Ich-Erzähler ihm unterstellt, tatsächlich denkt. Das ist alles viel zu erwachsen! Unmöglich, dass ein Grundschüler die Gedanken, Probleme und Beziehungen der Großen so einschätzen und kommentieren kann! Da dichtet ein Erwachsener nachträglich einiges dazu.

Das Buch ist sicher nicht perfekt, aber auf seine überbordend phantasievolle und etwas verschrobene Weise ungeheuer faszinierend und unterhaltsam.

Der Autor
Nicholas Christopher wurde 1951 in New York geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur am Harvard College reiste er durch Europa und schrieb für führende amerikanische Zeitungen und Magazine. Bislang hat er fünf Romane, acht Gedichtbände sowie ein Sachbuch veröffentlicht. Christopher ist Professor an der Columbia University und lebt mit seiner Frau in New York.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
http://www.boxmail.de

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert