Steffanie Burow: Im Tal des Schneeleoparden – Roman

Steffanie Burow: Im Tal des Schneeleoparden – Roman, Knaur Taschenbuch, ISBN 978-3-426-50659-2, Softcover, 508 Seiten, Format: 11,5 x 17,8 x 2,7 cm, EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A).

„Kim war der Panik nahe. Seine Angst um Anna wuchs stündlich. Hatte er anfangs noch vermutet, der Alte, Tara und Achal würden übertreiben, so hatte ihn die Befreiungsaktion von Taras Schwester endgültig davon überzeugt, dass etwas Ungeheuerliches im Gange war.“ (Seite 436)

Was weiß man eigentlich über seine Eltern? Solange man noch ein Kind ist, nimmt man sie nur in ihrer Funktion als Mama und Papa wahr. Bis man begreift, dass sie Menschen sind mit einer eigenen Geschichte, ist man in der Regel schon ziemlich erwachsen. Wenn Vater und Mutter dann nicht über Persönliches reden wollen und man auch keine alten Weggefährten zum Plaudern bringt, wird einem irgendwann einmal klar, dass man seine Eltern nie richtig gekannt hat. So ergeht es zwei jungen Frauen in diesem Roman: der Lüneburger Finanzbeamtin Anna Siefken und der nepalesischen Bergbauerntochter Tara Lamichhane. Noch weiß keine von der Existenz der anderen …

Anna
Nach dem Unfalltod ihrer Mutter Bärbel sichtet die Finanzbeamtin Anna Siefken, 32, deren Nachlass. Ihr Vater, Eddo, ist emotional dazu nicht in der Lage. Und Bruder Timo hält sich vornehm zurück. Neben allerhand Erinnerungsstücken, die Anna nicht zuordnen kann, findet sie Briefe an ihre Mutter, unterschrieben „von deiner besten Freundin Laksmi“. Mit bürgerlichem Namen heißt diese Laksmi anscheinend Ingrid Doggenfuss. Anna hat keinen der Namen je gehört.

Die biographischen Daten, auf die die Briefeschreiberin Bezug nimmt, stimmen nicht. So gut kann Laksmi/Ingrid also doch nicht mit Bärbel befreundet gewesen sein. Merkwürdig. Mit wachsender Faszination liest Anna die Briefe und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie bitte? Ihre Mutter war ein Hippie und hat mit Ingrid in einer Kommune gehaust? Sie war in Indien und hat sogar eine Weile in Nepal gelebt? Ihre spießige, schweigsame Mutter? Anna kann das gar nicht glauben. Nie hat Bärbel von dieser Zeit gesprochen!

Ihren Vater will sie derzeit nicht mit Fragen belasten. Familienangehörige hat ihre Mutter keine mehr und Freunde aus ihrer Jugendzeit kennt Anna nicht. Wenn sie also etwas über Bärbels Vergangenheit erfahren will, muss sie Ingrid kontaktieren. Das erweist sich als schwierig, doch nicht als unmöglich: Ingrid Doggenfuss heißt jetzt Ingrid Dashgupta und betreibt mit ihrem Mann ein Hotel in Darjeeling. Die sonst so schüchterne und ängstliche Anna macht sich allein auf nach Indien, um Antworten auf ihre Fragen zu finden.

Von Ingrid und ihrer Familie wird sie freundlich aufgenommen. Der Sohn des Hauses, Kim, ist sogar ausgesprochen hilfsbereit und sympathisch. Doch was Ingrid zu erzählen hat, bringt Annas bislang heile Welt ins Wanken: Nichts, aber auch gar nichts von dem, was man ihr als Familiengeschichte verkauft hat, stimmt!

Bärbel
Bärbel hat sehr wohl noch Familie, wenn auch eine dysfunktionale. Ein traumatisches Erlebnis hat sie 1969 dazu bewogen, im Alter von 18 Jahren ihr Elternhaus Knall auf Fall zu verlassen und sich einer Hippiekommune in Ostfriesland anzuschließen.

„Motor“ der Kommune ist der ehrgeizige Achim Bendig, der in Bärbel eine verwandte Seele zu erkennen glaubt. Er ist es auch, der seine Mitbewohner auf die Idee bringt, nach Indien zu gehen.

Gesagt, getan. Achim, Bärbel, Ingrid, Pieter und Marten machen ihren VW-Bus flott und treten die lange, abenteuerliche und beschwerliche Reise an. Unterwegs lesen sie ein Pärchen aus Bayern und zwei junge Franzosen auf. In Delhi trennt sich die Gruppe: Achim, Bärbel, Pieter und der Franzose Sylvain reisen weiter nach Kathmandu/Nepal, der Rest will nach Goa. Alles weitere weiß Ingrid Dashgupta auch nur vom Hörensagen. Bärbel und Sylvain wurden ein Paar, doch war ihnen kein langes Glück beschieden.

Anna ist völlig durch den Wind und Ingrid rät ihr, nach Kathmandu zu reisen und sich vor Ort anzusehen, wo und wie ihre Mutter gelebt hat. Vielleicht findet sie ja sogar noch jemanden, der sich an sie erinnert. Achim Bendig soll noch dort leben und ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden sein. Anna steigt also ins Flugzeug und fliegt nach Nepal …

Tara
Die nepalesische Bergbauerntochter Tara Lamichhane, 23, weiß genau, dass ihr Vater Dipendu Geheimnisse hat. Irgendwann in der Vergangenheit muss er eine schwere Schuld auf sich geladen haben. Möglich, dass ihn der Bhoot deshalb in der Hand hat. Der Bhoot, das ist der skrupellose Kerl, der Taras jüngere Schwester verschleppt hat und sie als Geliebte in seinem Haus gefangen hält. Und ihr Vater hat gar nichts dagegen unternommen. Auch Taras Brüder werden nichts tun, um die jüngste Schwester zu retten. Längst haben sie dem Dorf Raato Danda den Rücken gekehrt und sich den maoistischen Rebellen angeschlossen.

Wenn sich also keiner um die Kleine kümmert, muss Tara es selber tun. Klammheimlich macht sie sich, begleitet von ihrem treuen Hund, zu Fuß auf nach Kathmandu, wo sie den Bhoot und ihre Schwester vermutet. Es ist gefährlich für die junge Frau, allein unterwegs zu sein. Sie muss den Soldaten aus dem Weg gehen. Und sie kann von Glück sagen, dass die Rebellen, denen sie in die Arme läuft, ihre Geschichte glauben und ihr einen ihrer Leute, Achal, als Begleitschutz mitgeben.

Freund oder Feind
Für das Landei Tara ist Kathmandu ein ebenso großer Kulturschock wie für die Europäerin Anna. Beide Frauen widmen sich mit Leidenschaft ihrer Mission und kommen dabei mit einem hinduistischen Wanderasketen in Kontakt, der sich „der Herr der Vögel“ nennt und einen psychisch etwas instabilen Eindruck macht. Immerhin: Taras Hund scheint ihn zu verstehen. Und beide treffen unabhängig voneinander auf den geheimnisvollen „Pangje“, einen Mann mit grünen Augen, von dem das Gerücht geht, er könne sich in einen Schneeleoparden verwandeln …

Wiederholt kreuzen sich die Wege von Anna und Tara bei ihrer Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Doch wie es aussieht, ist der Freund der einen der Feind der anderen. Oder? Bei einer Bergtour zeigt sich auf dramatische Weise, wer auf wessen Seite steht …

Foto: © Marion / http://www.pixelio.de

Abenteuer und Geheimnisse
Den Roman IM TAL DES SCHNEELEOPARDEN kann man kaum in eine Schublade stecken. „Abenteuer trifft Entwicklungsroman“ trifft es vielleicht. Wenn Anna sich nicht entschlossen hätte, den Spuren ihrer Mutter zu folgen, wäre sie niemals nach Indien und Nepal gekommen, hätte nie ihren Horizont erweitert und ihre eigene Stärke entdeckt. Verhuschte Büromäuse treffen keine Schneeleoparden. Und auch selten einen attraktiven indischen Biologen. Ein bisschen schnell geht sie vielleicht, die Verwandlung vom Mauerblümchen zur Powerfrau. Aber irgendwas ist immer.

Das Besondere an Steffanie Burows Büchern ist, dass sie die Schauplätze, die sie beschreibt, auch wirklich selbst bereist hat. Und mit „reisen“ meine ich nicht 14 Tage Nobelhotel und ein bisschen Recherche, sondern so richtig als Rucksacktourist. Und das merkt man an vielen kleinen Details in der Geschichte, die unmöglich alle angelesen sein können. In ihrem Nachwort, das sich – ebenso wie die Danksagung – unbedingt zu lesen lohnt, schreibt sie: „Ich habe Nepal in den Jahren 2000, 2003 und 2009 jeweils für mehrere Wochen und Monate besucht und zähle diese Zeiten, trotz aller Einschränkungen, zu den schönsten meines Lebens“. (Seite 505).

Abenteuerlustige Naturen werden nach dieser Lektüre sofort einen Flug nach Nepal buchen wollen. Und die Couch-Potatoes unter den Lesern werden sich freuen, dass jemand für sie die Gefahren und Strapazen des Reisens auf sich genommen hat und ihnen die Erlebnisse dann so überaus lebendig und anschaulich schildert. Das ist fast so, als sei man live dabei.

Nicht zuletzt geht es in diesem Roman um Familiengeheimnisse und wie man damit umgeht. Die einen erzwingen die Verschwiegenheit ihrer Angehörigen mit brutaler Gewalt, die anderen versuchen zu verdrängen und zu vergessen. Nur Ingrid pflegt ein entspanntes Verhältnis zu den Schatten der Vergangenheit. Sie hat aber auch vergleichsweise wenig zu verbergen …

Die Autorin
Steffanie Burow war Art-Direktorin und Werbetexterin, bevor sie gemeinsam mit ihrem Mann ausgedehnte Reisen durch die Länder des Fernen Ostens unternahm, die den Stoff für ihre Romane lieferten. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Hamburg.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
http://www.boxmail.de

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert