Ulrike Renk: Die Seidenmagd – Historischer Roman

Ulrike Renk: Die Seidenmagd – Historischer Roman, Berlin 2012, Aufbau-Verlag, ISBN 978-3-7466-2843-1, 463 Seiten, Softcover, Format 18,8 x 12,4 x 3 cm, EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A).

Krefeld 1757, mitten im Siebenjährigen Krieg. Die Zeiten sind hart, besonders im Winter, wenn die Lebensmittelvorräte zur Neige gehen und man auch noch die französischen Besatzer samt ihren Pferden beherbergen und durchfüttern muss.

Auch die Mennonitenfamilie te Kamp hat schon bessere Zeiten gesehen. Der Vater ist nach langer Krankheit verstorben, Sohn Michel hat sich vor drei Jahren gegen den Willen der Familie den Hannoveraner Truppen angeschlossen und nie wieder etwas von sich hören lassen. Mutter Esther bringt sich und ihre vier Töchter mehr schlecht als recht als Weißnäherin durch. Die älteste Tochter, die achtzehnjährige Henrike, verdient als Haushaltshilfe bei Bürgermeister Floh noch etwas dazu. Den Haushalt der Familie te Kamp führt die zweitälteste Tochter Catharina. Sie unterstützt ihre Mutter auch bei den Näharbeiten.

Die beiden jüngeren Töchter, Elisabeth und Mette, gehen noch zur Schule. Bei den Mennoniten genießen Mädchen „eine gewisse rudimentäre Bildung. Sie können lesen und schreiben, etwas rechnen. Latein, kaum Englisch oder Italienisch, aber Niederländisch, Französisch und Deutsch. Musik und schöne Künste kennen sie fast gar nicht.“ (Seite 333) Ein wichtiges Gebot für die mennonitische Glaubensgemeinschaft ist nämlich Schlichtheit. Prunk, Protz und Unterhaltung – also auch Kunst und Musik – gelten als eitel, sündig und nicht gottgefällig. In diesem Sinne werden auch die Töchter der Familie te Kamp erzogen.

Mutter Esther te Kamp hat ein seltsam distanziertes Verhältnis zu ihren Kindern. Vielleicht war das damals so, doch aus heutiger Sicht wirkt es ziemlich befremdlich. Sie versorgt die Mädchen, aber deren Schicksal ist ihr ziemlich gleichgültig. Als Elisabeth lebensgefährlich erkrankt, überlässt Esther die Pflege komplett Catharina und kümmert sich nicht weiter darum. Entweder das Mädchen überlebt – oder eben nicht. Selbstschutz in Zeiten hoher Kindersterblichkeit?

Als der junge Frieder aus dem Haus der wohlhabenden Seidenbarone von der Leyen Interesse an der klugen und attraktiven Catharina äußert, ist der Handel schnell gemacht: Catharina wird als Kammermädchen in seine Dienste treten und ihn auf seinen Geschäftsreisen begleiten. Dass sie nicht von zu Hause fort will, dass die Gemeinde dieses Arrangement für bedenklich bis unschicklich hält und dass Catharinas Schwester Henrike nun zu Hause helfen und dafür ihre Stelle beim Bürgermeister aufgeben muss, wo sie die Chance gehabt hätte, zur Beiköchin aufzusteigen, das alles ist Esther egal. Von der Leyen zahlt gut, und die Töchter haben sich zu fügen. Nicht einmal Catharinas beste Freundin in der Gemeinde, Madame Anna ter Meer, weiß da noch Rat.

Das Leben in dem großen herrschaftlichen Haushalt der von der Leyens, die sogar Kontakte zum Königshaus haben, unterscheidet sich stark von der bescheidenen Weiberwirtschaft der te Kamps. Catharina lernt viel und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Komplett verunsichert ist sie, was ihre Position in diesem Haushalt angeht. „Überhaupt war sie sich immer noch nicht klar darüber, was für eine Rolle sie einnahm. Wenn er mit ihr sprach, dann sehr höflich und fast wie zu seinesgleichen. Doch in den letzten zwei Tagen hatte sie die Stellung der Magd ausgefüllt, ohne beachtet zu werden. Diese Rolle war ihr lieber.“ (Seite 192) Doch dabei bleibt es nicht. Frieder von der Leyen gibt ihr Bücher zu lesen und diskutiert mit ihr darüber. Er nimmt sie mit nach Hannover und Potsdam, wo sie mehrere Monate lang bleiben. Eine Wohnung hat er dort, eine Köchin und einen Kammerdiener. Catharina ist abwechselnd Dienstbotin, Gastgeberin, Diskussionspartnerin und Begleitung. Frieder verlangt, dass sie ihre schlichte mennonitische Garderobe stadtfein macht und nimmt die junge Frau mit ins Konzert und in die Oper. Catherina schwankt zwischen Faszination und Gewissensbissen. Führt sie hier nicht ein eitles, sündiges und gar nicht gottgefälliges Leben?

Durch Zufall hört sie ein Gespräch mit an und erfährt so, was Frieder eigentlich mit ihr vorhat. Für ihn ist sie eine Art soziales Experiment.
„Sie ist so ein und unverdorben, gleichzeitig aber nicht dumm. Sie hat eine rasche Auffassungsgabe und ist interessiert.“
„Was willst du denn herausfinden?“
„Ob man so eine Wildpflanze veredeln kann (…)“
(Seite 217)
Frieder fragt sich nämlich, ob Dienstboten wirklich zu dumm für Bildung, Kunst und Musik sind, oder ob sie einfach aus Mangel an Zeit und Gelegenheit keine Ahnung haben. Das möchte er an Catharina ausprobieren. Sie will natürlich kein Versuchsobjekt sein, aber sie hat ja keine Wahl.

In Potsdam, weit weg vom ideologischen und moralischen Einfluss der mennonitischen Gemeinde, droht dieses Experiment aus dem Ruder zu laufen. Catharina fühlt sich zu Frieder hingezogen, und auch er scheint etwas für sein Kammermädchen zu empfinden. Doch wie soll das weitergehen? Hat eine Beziehung über Standesgrenzen hinweg Zukunft? Und wenn ja, um welchen Preis? Zurück in Krefeld, muss Catharina sich entscheiden …

In diesem Roman geht es nicht um Kaiser und Könige, und auch wilde und haarsträubende Abenteuer sucht man hier vergebens. Hier geht es um das Leben der einfachen Leute. Wie war das damals, wenn man nichts zu sagen und zu beißen hatte und hilflos dem ausgeliefert war, was die Mächtigeren anzettelten? Und die konnten so ziemlich alles machen, was sie wollten. Niemand hinderte die französischen Besatzer daran, die Bevölkerung zu drangsalieren. Niemand schritt ein, als die einflussreiche Familie von der Leyen mit dem König das Monopol auf die Seidenweberei aushandelte und zahlreiche kleine Handwerker aus dem Geschäft drängte.

Hart war das Leben, gefährlich und arbeitsreich. Und noch viel ungerechter als heute. Spätestens bei der Schilderung der Krankenpflege, der sich kräuterkundige Frauen wie Catharina te Kamp, Anna ter Meer oder die alte Köchin Thea widmen, vergehen einem jegliche romantische Anwandlungen in Bezug auf die Vergangenheit. Und trotz alledem haben die Menschen damals auch diesem beschwerlichen Leben seine Glücksmomente abgerungen.

Es empfiehlt sich unbedingt, auch das Nachwort zu diesem Roman zu lesen. Und bitte, wie von der Autorin angeraten, erst nach Lektüre es Buchs – es sei denn man ist ein gewohnheitsmäßiger „Spoiler“. Dort erfährt man nämlich nicht nur, welche Quellen Ulrike Renk für dieses Buch herangezogen hat, sondern auch, welche der Romanfiguren wirklich gelebt haben und welche dichterischen Freiheiten sich die Autorin den wahren Ereignissen gegenüber herausgenommen hat.

„Viele Informationen und Grundlagen des Buches habe ich – wie auch bei meinem Roman ‚Die Frau des Seidenwebers’ dem Tagebuch des Abraham ter Meer entnommen (Zelt Verlag, Krefeld 1936)“, schreibt sie. (Seite 461). Die Gewissheit, dass der Roman zum Teil auf realen Ereignissen beruht, macht die Geschichte noch packender – und teilweise auch beklemmender. Und wer bis jetzt noch nie etwas mit der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten zu tun hatte, erhält hier interessante Einblicke in ihre Lebens- und Gedankenwelt. „Die Seidenmagd“ ist definitiv kein Liebeskitsch vor historischer Kulisse, sondern ein sorgfältig recherchierter, fesselnd erzählter historischer Roman im besten Sinne.

Die Autorin
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familiein Krefeld. Mehr zur Autorin unter http://www.ulrikerenk.de.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

http://www.boxmail.de

2 Kommentare

  1. Sehr interessant.
    Hängen die beiden Bücher zusammen?
    Sollte man erst die Frau des Seidenwebers lesen oder ist es unnötig?
    (Lesen ist natürlich nie unnötig, nur des besseren Verständnisses wegen)

  2. Es für das Verständnis der Geschichte nicht notwendig, die ‚Frau des Seidenwebers‘ gelesen zu haben. Die Heldin aus dem ersten Band spielt eine Nebenrolle im zweiten, aber es sind getrennte Geschichten, die eben im gleichen Umfeld spielen.

    Ulrike sagt ja, dass beides auf den Tagebüchern von Abraham ter Meer basiert.

Schreibe einen Kommentar zu Edith Nebel Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert