Verpasste Chancen, verschenkte Möglichkeiten

Ich glaube, ich gehe meinem Vater schon nach zwei Wochen mit meiner Trauer auf die Nerven. Ich solle nach vorne schauen und froh sein, dass es vorbei sei, meint er. Die ständige Sorge um einen kranken Partner koste doch unglaublich viel Kraft.

Ein bisschen mag da hineinspielen, dass das Verhältnis zwischen Gerhard und ihm nicht das allerherzlichste war. Aber in einem hat er schon recht: Es kostet viel Kraft, wenn der Partner nicht gesund ist. Er weiß, wovon er spricht. Meine Mutter war in den letzten Jahren auch schwer krank und mein Vater geriet dadurch an die Grenzen seiner Belastbarkeit.

Er vermisst meine Mutter heute noch, nach über 10 Jahren. Dabei denkt er nicht an die letzten Jahre der Krankheit, sondern an die guten Zeiten davor. Wenn er von ihr spricht, dann darüber, wie sie in den 50-er Jahren das Haus in Denkendorf gebaut haben, mit viel Eigenleistung und wenig Geld. Wie sie im Vereinsleben aktiv waren und mit den Sportkameraden die Nächte durchgefeiert haben. Er redet von ihren gemeinsamen Reisen, von ihrer Arbeit als Schneiderin und über ihre Angewohnheit, stets penibel den Kassenzettel vom Supermarkt zu kontrollieren. Gelegentlich erzählt er auch, wie sie mal in einem Wutanfall das Kellerfenster ruiniert hat.

Meistens spricht er jedoch von dem schönen Leben, das sie gemeinsam hätten haben können, wenn sie ihre Symptome nicht verdrängt hätte, sondern so früh zum Arzt gegangen wäre, dass man ihren Krebs noch hätte behandeln können. Er trauert nicht um die Zeiten der Sorge und der Krankheit, sondern um das, was ihnen entgangen ist. Was sie nicht mehr gemeinsam erleben konnten, weil ein Partner sich zu Lebzeiten anders entschieden hat.

Tour2-kl

Vom Winde verweht auf Fuerteventura, 2006

Genauso geht es mir. Ich trauere um die verpassten Chancen und die verschenkten Möglichkeiten. Das mag irrational sein, aber es ist leider nicht so einfach abzustellen.

5 Kommentare

  1. Genauso geht es mir auch, ich denke immer ob ich alles getan habe. Aber das ändert nichts mehr. Mein Mann war auch lange krank und doch ist es schwer, dass er nicht mehr da ist. Und was alle die Anderen betrifft, sie verstehen es nicht. Und dazu kommen noch die vielen Jahre die man miteinander zusammen war Ich trauere so lange wie ich will und das tut mir gut. Liebe Grüße und alles Liebe. Ihre Ursula Geier

  2. Liebe Edith, nach dem Scheitern meiner Ehe stürzte ich in eine tiefe Depression, aus der mich nur meine Aufgaben bezüglich meiner Kinder herausholen konnten. Auch ich trauerte (und trauere) selbst nach 12 Jahren immer wieder sporadisch, wenn ich mir vorzustellen versuche, welche Möglichkeiten wir als Familie gehabt hätten und wie viel leichter meine Kinder (eventuell) aufgewachsen wären. Vorbei zu akzeptieren ist schwer, vor allem ein endgültiges. Die Chancen, die darin liegen, erkennt man erst viel, viel später und auch hier ist die Zeit individuell.

    1. Das hoffe ich ja auch insgeheim: dass auch eine Chance in einem Neuanfang liegt. Nur um mir vorzustellen, wie die aussehen könnte, ist es definitiv zu früh. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es doch besser gewesen wäre, wenn wir uns getrennt hätten. Dann hätten wir wenigstens noch miteinander streiten können, wenn uns danach gewesen wäre. So ist es eben endgültig. Und das ist so scheiß-unfair.

  3. Liebe Edith, ihr hättet euch nach einer Trennung nur streiten können, wenn dein Mann in dem Fall nicht gestorben wäre. Da aber anzunehmen ist, dass er auch nach einer Trennung nicht besser auf seine Gesundheit aufgepaßt hätte, wäre er auch dann gestorben. Und du würdest dich jetzt womöglich fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, zusammenzubleiben… Du bist bei deinem Mann geblieben und dafür hattest du sicher gute Gründe.
    Ich denke oft an dich und wünsche dir alles Gute.

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