Aus dem Gleichgewicht

„Jetzt hast du wenigstens dein eigenes Leben wieder“, sagte eine gute Bekannte, die sich ebenfalls auskennt mit kranken Angehörigen und plötzlichen Todesfällen.

Das stimmt natürlich. Viele Sorgen, die ich vorher hatte, habe ich seit dem Tod meines Mannes nicht mehr. Dafür habe ich jetzt andere. Und mit meiner neu gewonnenen Freiheit weiß ich gar nichts anzufangen.

Noch ist mein Leben auf dem alten Kurs, nur jetzt ohne meinen Mann. Ich strample mich ab und bewege mich schwankend und unsicher in die vertraute Richtung. Es ist ein bisschen so, als sei er während der Fahrt vom Tandem gefallen. Ich kann nicht bremsen. Ich kann nicht umkehren. Wie auch? Das Leben geht weiter, ein Zurück gibt es nicht. Ich kann auch nicht souverän weiterfahren, als würde der Verlust meines Partners keine Rolle spielen. Und ich kann der Fahrt keine neue Richtung geben, obwohl jetzt theoretisch alles möglich wäre.

„Du könntest deinen ganzen Krempel verkaufen und – was weiß ich? – nach Japan auswandern“, sagte ein alter Freund, um mir meine neuen Möglichkeiten bewusst zu machen. Und mir fiel überhaupt nichts ein, was ich anderes vom Leben wollen könnte. Ich wurstle einfach weiter wie bisher.

Ziel anpeilen, Routen ausarbeiten und lenken kann ich freilich, ich habe schon in jungen Jahren gelernt, wie das geht. In der letzten Zeit blieb das sowieso alles an mir hängen. So richtig kraftvoll mit in die Pedale treten konnte er ja schon lange nicht mehr. Aber ich bin aus dem Gleichgewicht geraten, seit er nicht mehr mit mir auf dem „Tandem“ sitzt. Ich bin ins Schlingern gekommen und kann mich derzeit kaum im Sattel halten. Und selbst wenn: Ich hätte keine Ahnung, auf welche neuen Wege ich das Gefährt steuern sollte.

Ich habe die schwere Last nicht mehr im Rücken, aber seit ich ganz alleine dafür verantwortlich bin, wohin die Reise geht, fehlt mir plötzlich jegliche Orientierung. Und mir fehlen der Rat und die Gesellschaft meines langjährigen Reisegefährten.

Illustration: Pearson Scott Foresman, gemeinfrei
Illustration: Pearson Scott Foresman, gemeinfrei

Illustration: Pearson Scott Foresman

Dieses Werk wurde der Wikimedia Foundation von Pearson Scott Foresman gespendet und als gemeinfrei veröffentlicht. Dies gilt weltweit. In einigen Ländern kann dies gesetzlich nicht möglich sein. Dann gilt:
 Scott Foresman erlaubt jedem bedingungslos, dieses Werk für jedweden Zweck zu nutzen, es sei denn solche Bedingungen sind gesetzlich erforderlich.

4 Kommentare

  1. Ich denke, dass du erst wieder Kraft schöpfen musst, bevor du mit deinem Tandem, aus dem jetzt ein Einzelfahrrad geworden ist, neue Ziele ansteuern kannst. Es klingt, als wäre dein Akku schon vor dem Tod deines Partners ziemlich leer gewesen. Laß ihn erstmal wieder vollständig aufladen, dann kommt hoffentlich die Lust sich neu zu orientieren von alleine. Bis dahin wünsche ich dir viel Geduld mit dir selbst, liebe Edith.

  2. Das Tandem ist ein sehr schönes Bild für so eine langjährige Lebensgemeinschaft. Klar, dass man aus dem Gleichgewicht gerät, wenn dann einer der beiden plötzlich wegfällt. Ich wüsche Dir, dass du es irgendwann wiederfindest, auch wenn das nicht von heute auf morgen geht. Hab ein bisschen Geduld mit Dir selbst, auch wenn es schwerfällt.

  3. Genauso geht es mir auch, es ist so gemein, wie das Leben mit einem umgeht. Aber es hilft nichts, am meisten ärgert es mich, wenn andere mir sagen wollen, was ich machen soll. Dabei haben die keine Ahnung, wie weh das alles tut. Manchmal möchte ich schreien:“Haut ab, ich brauche eueren Rat nicht, mir kann keiner helfen, nur ich versuche es weiter. Irgendwann, werde ich wieder anfangen zu leben.

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