Familientreffen ohne äußeren Anlass

Die Idee mag in den letzten fünf Jahren gereift sein, als sich unsere weit verstreute Verwandtschaft eigentlich nur noch in ihrer Gesamtheit traf, wenn wieder einer aus ihren Reihen verstorben war. Spätestens nach dem Ausruf eines Cousins „Wenn der Anlass nicht so traurig wäre, würde ich jetzt sagen: Es ist soooo schön, euch alle wieder mal zu sehen!“, war dann klar, dass wir uns mal treffen sollten, ohne dass ein äußerer Anlass dafür besteht.

Einer meiner Cousins nahm die Planung und Organisation in die Hand. Es ist eine Sauarbeit, fast 40 Leute aus verschiedenen Ecken der Welt zu koordinieren und das so hinzukriegen, dass alles reibungslos klappt und alle hinterher zufrieden sind. Ich weiß es zu würdigen, was R. und seine Familie da geleistet haben. Und ich hoffe, dass er bei der Abrechnung im Hotel am Schluss nicht auf ein paar ungeklärten Posten sitzen geblieben ist. Unser Clan ist sehr redefreudig und sehr chaotisch. Was immer man verlegen, verschlampen oder vergessen kann, wir verlegen, verschlampen und vergessen es. (Hotelzimmerschlüssel!) Ich glaube kaum, dass am Schluss noch jeder wusste, was er alles verzehrt hat. Die Dame an der Kasse der Rezeption war jedenfalls nach kurzer Zeit mit uns schon ziemlich gestresst. 😀

Schön, alle mal wiederzusehen


Ja, es war toll, alle mal wiederzusehen. Irgendwann sitzt man da, schaut sich den rege quasselnden Haufen an und denkt: Schon eine interessante Ansammlung patenter Leute hier! Und alles meine Mischpoche!

Gut, durch die herzliche aber gewohnt raubeinige Begrüßung eines Onkels muss man erst mal durch, ehe man sich mit der Sippe festquatschen kann und von allen erfährt, was bisher geschah. Der Onkel freut sich ehrlich, einen nach Monaten/Jahren wieder mal zu sehen, aber jedes Mal darf man sich anhören, dass man wahlweise älter, grauhaariger oder dicker geworden ist. Schlimmstenfalls alles zusammen. Ja, so etwas denke ich mir manchmal auch, wenn ich jemanden lange nicht gesehen habe. Aber sagen würde ich das nie. Jeder weiß ja selber, dass er früher einmal jünger war. 😉 Aber so war das schon immer, und es lohnt sich irgendwie nicht mehr, jetzt noch deswegen ein Fass aufzumachen. Und abgesehen von seiner ungefilterten Ehrlichkeit isser ja auch ein prima Kerl.

Netzwerke: Wer hält Kontakt mit wem?


Immer wieder bin ich erstaunt, wer mit wem übers Jahr Kontakt hält. Vor allem die Sektion Berlin ist offenbar bestens vernetzt. Da werden angeheiratete Menschen herzlichst begrüßt, die ich noch nie zuvor gesehen habe und von deren Existenz ich nur durch meine regelmäßige Lektüre der standesamtlichen Nachrichten in der Regionalzeitung erfahren habe. Nicht, dass ich damit ein Problem hätte – es ist perfekt so, wie es ist. Ich bin nur generell am Thema „Netzwerke“ interessiert. Die muss man pflegen, das weiß ich. Als ich das letzte Mal in Berlin zu tun hatte, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, mich bei einem Verwandten zu melden – ich hätte nicht einmal die Kontaktdaten gehabt. Stattdessen habe ich mich nach Feierabend bei einer dort ansässigen Drehbuchautorin gemeldet und habe mich mit der Betreiberin eines Bücherforums getroffen.

Als Kinder wurden wir immer verglichen


Ich gestehe, dass ich vor dem Familientreffen nervös war. Irgendwie ist das für mich immer wie eine Prüfungssituation.
„Wenn meine Eltern noch leben würde, käme jetzt nach dem Treffen die Manöverkritik“, sagte ich spät am Abend zu einer meiner Cousinen. „Ich wär’ wieder nicht schön genug angezogen gewesen, hätte nicht freundlich genug geschaut, hätte mit diesem mehr und mit jenem weniger reden sollen, dies und das auf gar keinen Fall sagen, tun oder lassen dürfen.“
Sie lachte. „Das ist uns allen genauso ergangen.“
Ich: „Im Ernst jetzt?“
Sie: „Ja, wirklich! Du erinnerst dich an meine Cousinen väterlicherseits, M. und J.?“
Ich nickte.
„Vor ein paar Jahren hat M. zu mir gesagt: ‚Weißt du, dass ihr uns immer als leuchtendes Beispiel vorgehalten wurdet? So klug, so engagiert, so gut in der Schule …’ – ‚Umgekehrt aber auch’, hab ich zu ihr gesagt: ‚Was war die M. wieder gut angezogen! Und so eine schöne Frisur hatte sie! Wann gehst denn du wieder mal zum Friseur? Musst du dir eigentlich die Haare so auffällig färben? Und immer bist du so dunkel angezogen …’“

Ich war, gelinde gesagt, überrascht. War ich also nicht die einzige, mit der man nach jedem Treffen hart ins Gericht gegangen ist? Ging das den anderen ganz genau so? Sind wir nur nie auf die Idee gekommen, darüber zu sprechen?

Die anderen waren immer viel toller


Anscheinend haben unsere Altvorderen dieses Spielchen Jahrzehnte lang gespielt: Die eigenen Kinder mit denen ihrer Geschwister verglichen und den Nachwuchs dabei alt aussehen lassen. Wenn mir das früher klar gewesen wäre, hätte ich das vielleicht als hohles Geschwätz abtun können. So hat mich das immer verletzt, wenn mein Vater loslegte, dass alle anderen mir haushoch überlegen seien: schöner, klüger, interessanter, umgänglicher, erfolgreicher, glücklicher … und ich ja nichts im Leben aufzuweisen hätte als einen toten Mann. Mit mir könnte man sich ja nirgends sehen lassen. Ich hätte immer Komplexe.

Wenn man das so liest, klingt das ja schon wieder witzig. Was erwartet denn jemand für ein Resultat, wenn er einem Menschen von klein auf einhämmert, dass er auf der ganzen Linie ein Verlierer sei? Wenn’s die Eltern sagen, wird’s schon stimmen, denkt man als Kind. Und wenn man dasselbe immer und immer wieder hört, hinterfragt man es auch nicht mehr.

Wohl dem, der seine eigene Erziehung halbwegs unbeschadet überlebt!

Hausbesichtigung


Für den Vormittag nach dem Treffen haben meine auswärtigen Cousins und Cousinen mir dann einen „freundlichen Überfall“ angekündigt. Sie wollten sehen, was ich aus meinem Elternhaus gemacht habe. Die Leidenschaft fürs Bauen und Umbauen liegt uns anscheinend allen in den Genen, und weil sie das Haus zu Zeiten meiner Großmutter und meines Vaters gut gekannt hatten, konnte ich ihr Interesse gut verstehen. Also habe ich am Sonntag Morgen noch schnell ein bisschen klar Schiff gemacht und dann die Sippe durch meine Behausung geschleust.

Die Männer interessierten sich für die Fußbodenbeläge, die restaurierten Balkone und die renovierten Badezimmer, den Frauen gefiel, dass jetzt alles so hell ist – und dass ich ein Ankleidezimmer habe. Viel Platz für Klamotten, Schuhe und Gedöns …

Von meinen drei Katern brachten sich zwei schnell auf den Dachboden in Sicherheit. Huch, fremde Menschen! Muss das sein? Nur Kater Indie blieb neugierig sitzen und wurde gebührend bewundert. Er ließ sich sogar von einer meiner Tanten streicheln. Er erkennt eben einen Katzenmenschen, wenn er einen vor sich hat.

„Dein Vater hat dich für einen Feigling gehalten“


Beim Abschied meinte dann der Onkel: „Wenn das dein Vater sehen könnte, der würde staunen! Er war sicher, dass du das nicht hinkriegst. Er hat immer gesagt, du hättest keinen Mumm. Du wärst ein Angsthase, der sich rein gar nichts zutraut.“
Ja, vielen Dank auch, Papa! Ein Arschtritt aus dem Grab heraus, das hat’s jetzt zum Abschluss dieses anstrengenden Umbauprojekts gebraucht.

Hab ich eigentlich ein Familien-Ich und ein anderes? Außerhalb der Familie habe ich mich nie als Angsthasen oder als Versager gesehen. Gut, ich bin kein Hasardeur, geschäftlich eher auf Sicherheit denn auf Risikofreude gepolt. Und ich wenn es so etwas wie einen „körperlichen Feigling“ gibt, dann bin ich auch das. Ich stürze mich nicht in irgendwelche sportlichen Aktivitäten, bei denen man sich die Knochen brechen kann. Das war noch nie meins. Aber ein Feigling? Ein Verlierer? Eine langweilige graue Maus, die nichts zu sagen hat? Diese Rolle hat mir mein Vater zugedacht, und ich habe sie fünf Jahrzehnte lang brav gespielt. Genau wie die anderen Cousins und Cousinen ihre Rollen gespielt haben.

Ein Wunder eigentlich, dass wir einander nicht zu hassen gelernt haben, wo wir selbst doch bei den Vergleichen mit den anderen immer so schlecht abgeschnitten haben. Aber wir hassen uns nicht. Wir schätzen und mögen einander und halten zusammen. Und das Familientreffen ohne äußeren Anlass würden wir auf jeden Fall gern wiederholen.

Foto: (c) michael berger / pixelio.de

Foto: michael berger / www.pixelio.de

6 Kommentare

  1. Da auch ich eine gewisse Leidenschaft für’s Bauen und Umbauen hege, gucke ich immer mal wieder, was es in deinem Blog an Neuigkeiten gibt. Und ich freue mich, dass du diesen langgehegten Plan, dein Elternhaus eines Tages umzubauen, so erfolgreich in die Tat umgesetzt hast, obwohl du das allein packen musstest. Soweit man das nach den Fotos beurteilen kann, ist es wirklich sehr schön geworden.

    Aber es packt mich jedes Mal die kalte Wut, wenn ich über die Herabsetzungen lese, die du von deinem Vater erfahren hast. Und ich bin auch ein wenig fassungslos, dass du das so lange mitgemacht hast.
    Ich fände es klasse, wenn du und deine Cousins den gesammelten Altvorderen, für die Kindererziehung offenbar hieß, dass man den eigenen Nachwuchs einer gnadenlosen Konkurrenz aussetzt und stets den Daumen nach unten zeigen läßt, eine lange Nase zeigen würdet: Ihr deckt, wenn auch spät, das ungute Spiel auf – und verhindert so vielleicht, dass eine weitere Generation eures lustigen Clans darunter leiden muss. Bis übers Grab hinaus sollten die euch nicht im Griff haben.

  2. Danke!
    Die, die das mitgemacht haben – und lange mitgemacht haben, ohne das Spiel zu durchschauen -, scheinen so gründlich die Nase voll davon zu haben, dass sie diese Methode sicher nicht bei ihren eigenen Kindern angewendet haben. Vom handelsüblichen Gemecker vielleicht abgesehen. Dieses Muster ist, denke ich, durchbrochen.

    Zum Glück haben wir uns nicht gegeneinander aufhetzen lassen. Wir haben uns nur jeder für sich bedröppelt bis schlecht gefühlt. Und wie sonderbar und bedauerlich, dass das jetzt erst ans Licht kommt, wo wir uns der Rente nähern.

  3. Wenn ich näher drüber nachdenke, finde ich es auch sehr ungewöhnlich, dass es in einer Familie so durchgesetzt ist, den eigenen Nachwuchs öffentlich dermaßen herabzusetzen, wie es in der Aussage deines Onkels zum Ausdruck kommt. Ich kenne es eher so, dass innerhalb einer Kleinfamilie den Kindern schon mal andere Kinder als leuchtende Beispiele vorgehalten werden. Aber nach außen stellen sich doch die meisten Eltern vor das eigene Kind. Schon, um selbst nicht als Versager dazustehen.

  4. Wenn Eltern wüssten, was und wie viel sie mit ihren dummen Sprüchen kaputt machen können … „Ich habe zwei Töchter. Eine hübsche und eine intelligente!“ hat mein Vater immer angegeben. Ist irgendwie auch verletzend … zum Glück ist aus dir trotzdem (oder gerade deswegen?) was „G’scheits“ geworden, eine Frau, die ich nur aus einem Forum ansatzweise kenne, die ich aber immer für ihre Intelligenz, Wortgewandtheit und Stärke bewundere.

    1. Dankeschön!
      Manchmal denk ich echt, wenn man seine Erziehung überlebt hat, kann einen danach nicht mehr viel schockieren.

      Meine Cousine hat mir ein Buch empfohlen, das das Verhalten unserer Ahnen anscheinend ein bisschen erhellen könnte. Ich hab’s mir gerade bestellt und werde mal sehen. Ich gehe davon aus, dass unsere Eltern ihren Erziehungsjob so gut gemacht haben, wie sie’s eben hingekriegt haben. Mit dem Resultat müssen wir irgendwie leben.

  5. Liebe Frau Nebel, es ist immer wieder KÖSTLICH, diese ironisch-sarkastischen Beschreibungen der eigenen Identität zu lesen. Man könnte nur schmunzeln und lachen, wenn da nicht durch jede Zeile auch die alten Verletzungen hindurch schimmern würden. Und DAS kenne ich nur zu gut. Wie sehr die Werturteile der eigenen Eltern das gesamte Leben bestimmen (auch noch „aus dem Grab heraus“) ist erschreckend. Das hört nie ganz auf. Selbst nach Jahrzehnten können noch die ältesten Wunden aufbrechen… Man muss immer weiter an seiner „Eigenliebe“ arbeiten und sich selbst dafür loben, TROTZDEM ein wertvoller Mensch geworden zu sein. Dass ich als Kind diese Mechanismen NICHT durchschaut habe (andere Kinder als Vorbild), ist ganz natürlich. Auch ich habe „meine Rolle“ über Jahre bis zum Perfektionismus gespielt, aus Angst und aufgrund der Abhängigkeit. Aber nun bin ich Zuschauer meiner Familiengeschichte und das macht MEIN Leben entschieden besser. Trotz gelegentlicher Rückschritte — es geht voran ! Herzliche Grüße und Gratulation zum SELBSTGEMACHTEN Heim ! M.B.

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