Die Welt ist voll von guten Ratschlägen, wenn es darum geht, eine entlaufene Katze zu suchen. Aber was alles auf einen zukommt, wenn einem so ein Tierchen zuläuft, davon spricht kein Mensch. Entsprechend ahnungslos waren wir, als es eines Freitag abends plötzlich bei uns an der Wohnungstür klingelte. Ich war nach einem langen Arbeitstag gerade dabei, die Wohnung zu putzen und nicht gerade begeistert von dieser Unterbrechung. Der „Störenfried“ war meine Nachbarin. „Schaut mal, was ich hier habe!“ rief sie und hielt meinem Lebensgefährten und mir ein wunderschönes, grau-weißes Kätzchen entgegen. „Ist der nicht niedlich?“
„Deiner?“, erkundigte ich mich neugierig.
„Nein. Ganz bestimmt nicht! Den hab ich hier nur aufgelesen. Er sitzt garantiert schon eine halbe Stunde vor der Haustür und plärrt. Ich glaube, der findet nicht mehr nach Hause.“
Wir schauten uns den Kleinen etwas genauer an. Er war sicher nicht älter als drei Monate.
„So gesund und gepflegt, wie der aussieht, gehört der bestimmt jemandem“, meinte Gerhard, meine bessere Hälfte. „Wahrscheinlich haben seine Leute eine Sekunde lang nicht aufgepaßt, und da ist er dann abgehauen.“
„Den können wir doch nicht hier draußen rumirren lassen“, fand ich. „Komm, gib her, ich nehme ihn mit rein! Bestimmt hat er Hunger.“
Gerhard verdrehte die Augen. „Wir haben doch schon drei so Biester! Was willst du denn mit noch einem? Bring ihm was zu Essen raus, und dann warten wir ab. Vielleicht fällt ihm ja doch noch ein, wo er wohnt.“
Unsere Nachbarin setzte den Kater also wieder in den Garten. Ich holte ihm ein Schüsselchen Dosenfutter und stellte es vor ihn hin. Aber er schnupperte nur kurz daran, setzte sich dann wieder vor die Haustür und stimmte sein herzzerreißendes Klagelied an. Länger als dreißig Sekunden hielt ich das nicht aus. Ich schnappte mir den kleinen Krümel und trug ihn die Wohnung. Die Nachbarin grinste. Ich glaube, sie wußte ganz genau, warum sie gerade bei uns geklingelt hatte …
Kaum hatte ich den Kater auf den Teppich gesetzt, war er auch schon von unseren drei Monstern umringt. Sie wurden lang und länger und beschnupperten den Eindringling mißtrauisch. Er dagegen blieb ungerührt sitzen. Selbst dann noch, als unsere dienstälteste Hauskatze zu jaulen und zu knurren anfing und die beiden Kater in den Chor mit einstimmten.
Nun, die würden sich schon einigen. Ich zeigte unserem vierbeinigen Gast, wo bei uns die Futternäpfe stehen und wo er die Toilette findet. Er war kein bißchen schüchtern und fand sich im Handumdrehen zurecht. Und als er sich nach einem ausgiebigen Erkundungsgang dann schließlich bei Gerhard auf dem Schoß zum Schlafen zusammenrollte, waren wir uns ganz sicher: Der Kleine kannte sich aus in einem Menschenhaushalt. Irgendwo wurde er bestimmt verzweifelt gesucht und schmerzlich vermißt. Nur wo?
Unsere drei Katzen liefen derweil herum wie Falschgeld. Noch ein vierbeiniger Hausgenosse, der mit ihnen um unsere Aufmerksamkeit konkurrierte, das war ihnen gar nicht recht. „Macht euch keine Sorgen“, sagte ich, „der geht ja bald wieder heim zu seinen Menschen!“
„Wollen wir’s hoffen!“ meinte Gerhard düster.
Irgendwie mussten wir ja nun publik machen, daß wir den kleinen Kater bei uns aufgenommen hatten. Ich setzte mich an den Computer und entwarf ein Plakat: „Grau-weißes Katerchen zugelaufen. Ca. 3 Monate alt. Kopf, Rücken, Schwanz grau. Gesichtszeichnung, Bauch und Pfoten weiß. Sehr gepflegt und menschenbezogen.“
Ich schrieb Name, Adresse und Telefonnummer darunter und illustrierte den Text mit einem Katzenbild aus meiner Stempelsammlung, das eine gewisse Ähnlichkeit mit unserem Findling hatte. Und dann machten wir uns daran, diese Information gezielt zu verbreiten. Das Tierheim und die örtlichen Tierärzte wurden angefaxt, und am nächsten Tag überzogen wir unseren Wohnort systematisch mit den Plakaten. Eins kam ans Gartentor und eins an die Haustür – damit der Postbote informiert war. Der kam ja überall herum und würde vielleicht auch wissen, wo ein entsprechendes Tier vermißt wurde. In den Banken, im Supermarkt und im CafË wurde ebenfalls plakatiert. Und eine Anzeige im örtlichen Gemeindeblättchen geschaltet. Jetzt konnte es ja wirklich nicht mehr lange dauern, bis Krümels Mensch sich bei uns melden würde. Dachten wir.
Unterdessen war unser Hausgast damit beschäftigt, die Wohnung zu erobern. Egal, ob Dusty, Rocky und Blacky fauchten oder spuckten, der kleine Krümel hatte die Ruhe weg. Er thronte hoch oben auf dem Kratzbaum, schlief in meinem Bett und sprang beim Sonntagsfrühstück beherzt auf den Tisch, um ein Stück von der begehrten Schinkenwurst zu ergattern. Eine Unsitte, die wir natürlich auch bei einem Gast nicht unwidersprochen hinnehmen konnten … Jeden Morgen spielte sich ein bestimmtes Ritual ab: Krümel fraß erst seinen „Kinderteller“ leer und machte sich dann noch über das Futter seiner drei Gastgeberkatzen her. Und wenn er sonst nichts besseres zu tun fand, jagte er unsere drei unerbittlich durch die Wohnung. Eins war gewiß: Die würden froh sein, wenn er wieder ging!
Mittlerweile war es Montag geworden und noch immer hatte sich niemand bei uns gemeldet und Krümel für sich beansprucht. „Den hat bestimmt einer ausgesetzt“, meinte Gerhard. „Den haben die ganz gezielt bei uns in den Garten gesetzt, weil sie wußten, daß wir uns schon um ihn kümmern würden. Eine bodenlose Schweinerei ist das! Was machen wir jetzt bloß mit ihm? Hierbleiben kann er nicht. Vier Katzen sind entschieden zu viel.“
„Ach“, sagte ich, „warten wir diese Woche einfach mal ab. Wenn sich bis zum Wochenende keiner gemeldet hat, dann suchen wir dem Kleinen ein neues Zuhause. Hast du nicht mal gesagt, die Krügers würden vielleicht noch eine Katze nehmen? Krümel Krüger, das wäre doch ein toller Name für den Kleinen!“
Am Dienstag trat ich schweren Herzens meine lang geplante Geschäftsreise an und ließ Mann und Katzen daheim wursteln. Immer wieder dachte ich an unseren Krümel und was wohl aus ihm werden würde. Am Mittwoch abend kam dann der erlösende Anruf. „Stell dir vor, Krümel ist wieder bei seinen Menschen“, erzählte mir Gerhard am Telefon. „Er wohnt praktisch nur um die Ecke. Seine Leute lassen ihn in den Garten, und bis jetzt hat das auch alles immer tadellos geklappt. Aber am Freitag hat er sich wohl verlaufen. Fritzchen heißt er übrigens. Seine „Chefin“ war vorhin hier. Eine nette Frau. Sie hat sogar ein Foto von ihm dabeigehabt, damit wir ihr auch glauben, daß es ihr Kater ist. Mensch, die war vielleicht froh, ihren Kleinen wiederzusehen! Denk dir nur, die haben die ganze Zeit über in der falschen Richtung nach ihm gesucht! Und erst heute haben sie eins unserer Plakate gesehen. Eine Flasche Sekt haben wir übrigens bekommen – als Dankeschön fürs Katerhüten.“
„Ha! Wenn das so ist, kann er natürlich öfter kommen!“
So ging die Geschichte doch noch gut aus. Krümel – der Fritzchen heißt – ist wieder glücklich bei seiner Familie. Wir sehen ihn öfter durch die Gärten stromern. Er scheint uns noch zu kennen. Denn er bleibt immer stehen und läßt sich ein bißchen von uns knuddeln. Ganz stolz trägt er jetzt ein blaues Halsband mit seiner Adresse drauf – damit er sicher nach Hause kommt, falls er wieder mal vergessen sollte, wo er wohnt.