Ute Maria Seemann: ANHALTEN! FETTHAARKONTROLLE! -“ Die blonden und die violett getönten Jahre der Ute S. aus D.

Ute Maria Seemann: ANHALTEN! FETTHAARKONTROLLE! ’“ Die blonden und die violett getönten Jahre der Ute S. aus D. Willebadessen 2006, Zwiebelzwerg-Verlag, ISBN: 978-3-938368-24-4, 100 Seiten, flexibler Einband, Titelbild und Illustrationen von Andrea Halm, Format 14,5 x 20,3 x 0,8 cm, EUR 9,50

Was macht man, um am Wahnsinn des Alltags nicht zu verzweifeln? Um nicht die Vollmeise zu kriegen beim Erwachsenwerden, im Beziehungsdschungel und im Kreise der Familie? Ute Maria Seemann hat die wichtigsten Momente stets schriftlich verarbeitet, in Gedichten und in Prosatexten, auf Hochdeutsch und auf Schwäbisch.

Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ist diese Sammlung an persönlichen Erinnerungen stetig gewachsen, und irgendwann einmal war der Wunsch da, eine Auswahl dieser Texte als Buch herauszubringen.

Was lange gärt, wird endlich Buch. Von der ersten Materialsichtung und Manuskriptbearbeitung bis zum Druck vergingen noch einmal rund 15 Jahre. Die Autorin nahm für dieses Projekt noch die Künstlerin Andrea Halm mit ins Boot, die die Texte mit herrlich spitzer Feder illustrierte. Nun liegt das Werk vor.

GEDICHTE enthält es, so vielseitig wie das Leben selbst. Mit Tiefgang und mit Augenzwinkern. Hier zwei Auszüge als Kostprobe:

SELBSTDIAGNOSE

irgend etwas muss ich haben
(Pocken oder Beulenpest?)
das die Männer von mir fernhält
und sie dort auch bleiben lässt
(…)

oder:

UNGESCHLIFFENER AMETHYST

hier und da
lass ich mir
einen Brocken Gestein dr Unwissenheit abschlagen

viel zu oft
darf die Gewohnheit
mit dem Schmirgelpapier an mir rumfummeln

aber Facettenschliff?
Nö danke!

Da ist die Fassung so verdammt nah …

ERINNERUNGEN findet man in diesem Buch. An die Kindheit, an vergangene Lieben, an eine verratene Freundschaft, an die Unbekümmertheit der Jugend, an die Zeit, als die Kinder noch klein waren ’“ und an eine Phase der HAUSFRAUENDEPRESSIONEN:

’žLöffelchenweise verfütterte ich Ewigkeiten, Energie und Lebensjahre an Kindermäulchen, die sie meist wieder respektlos sabbernd von sich rülpsten. (…) Von vergangenen Zeiten träumte ich, in denen ich noch andere Menschen kannte ’“ außer dem eigenen Mann.’œ

’žMein halbes Leben habe ich gebeugt an einer zu niedrigen Spüle verbracht!’œ, ist ihr Fazit. Und es gehen einige Jahre ins Land, bis sich die Autorin bewusst wird: ’ž… es gibt mich wirklich noch!’œ Das Leben findet also nicht nur in ihren Tagträumen statt.

Wer das egoistische Trampeltier war, das sie in dem Gedicht ENTSCHULDIGUNG so gnadenlos porträtiert, verrät sie uns leider nicht. Ob derjeinige sich beim Lesen wohl wiedererkannt hat? Oder ob er noch immer nichts merkt?

Zum Heulen schön: der Nachruf auf eine gescheiterte Ehe: WILLST DU MIT MIR GEHEN? Ein erfreulicher Beweis dafür, dass man nicht immer Gift und Galle spucken muss, wenn eine langjährige Beziehung nicht mehr lebbar ist, sondern dass man in Anstand und Würde getrennte Wege gehen kann.

BRIEFE UND ABRECHNUNGEN wenden sich direkt an die Personen, die die Autorin ein Stück ihres Weges begleitet haben. Oder eben nicht begleitet haben. Das Gedicht DOCH OHNE MEINEN VATER ist an den abwesenden ’“ und vielleicht auch abweisenden ’“ Elternteil gerichtet. FAN(ATISCH) ist den Künstlern Klaus Hoffmann und Wolfgang Niedecken gewidmet, die Ute Maria Seemann seit ihrer Jugend verehrt – wobei sich natürlich Ausdruck und Intensität der Begeisterung über die Jahre gewandelt haben. Eine augenzwinkernde Hommage an ihre Idole. WEISST DU NOCH? gilt einer ehemals guten Freundin und GEFANGENE DER ZEIT einem ihrer Söhne.

Manche Erinnerung ist auch als (VER)STIMMUNGSBILD in die Annalen eingegangen. Die Geschichte SONNTAGVORMITTAGSIMPRESSIONEN, zum Beispiel. Ein Familienausflug steht auf dem Programm, doch schon die Vorbereitungen erweisen sich als erschöpfend und wecken in der Autorin die Sehnsucht nach einem beschaulichen Leben im Kloster. Doch in diesem turbulenten Haushalt hat man kaum Zeit, einen Satz zu Ende zu denken, geschweige denn, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.

Kommen wir zur Kategorie SCHWÄBISCHES:
In keiner Sprache der Welt kann man sich so treffend und nuancenreich ausdrücken wie im heimischen Dialekt. Deshalb enthält dieses Büchlein natürlich auch Schwäbisches. Und unter anderem mein Lieblingsgedicht aus diesem Band: Die QUADROLOGIE DES GEHENS. Das ganze komplexe Beziehungsleben ’“ erste Liebe, Kinder, Trennung, neue Liebe ’“ in vier prägnanten Strophen. Hier ein Auszug:

QUADROLOGIE DES GEHENS
oder; Komm mit, gang weg!

I. komm, mir ganget!
bleib, i komm!
wenn du net goasch, bleib i au …
geh mr jetzt endlich?

MIR ZWOI GANGET ZAMMA

II. goasch da weg!
gang endlich noara!
gang no, i komm au bald!
komm, gang jetzt endlich!

MIR ZWOI KOMMET ZU NIX, MIR HEN KENDER
(…)

Ob die eigene Biographie nun mehr oder weniger Parallelen zu der Lebensgeschichte der Ute Maria Seemann aufweist ’“ vieles ist so universal, dass man sich unwillkürlich darin wiedererkennt. Und man kann gar nicht anders, man muss die Autorin für ihre ’žDurchwurstel-Qualitäten’œ bewundern. Und dafür, dass sie den Humor behält, auch wenn es wieder mal alles andere als rote Rosen regnet …

  1. Eine Sammlung tiefgründiger und nachdenklich machender Gedankenspiele über das Leben. So geschrieben daß man es empfindet als ob man es selbst erlebt. Für jeden der ein bißchen Schwäbisch kann sind die Ausflüge in den Dialekt eine wahre Fundgrube an Formulierungen die man schier nicht übersetzen kann (und wenn dann nur mit vielen Worten). Hab mich mich beim lesen scheckig gelacht und traurig gefühlt. Vor allem waren es die kurzen Gedichte die lange Zeit zum verdauen brauchten. Manches muß man öfters lesen um es von mehreren Seiten betrachtet richtig begreifen zu können. Hab es mittlerweile schon mehrfach auch an Nicht-Schwaben verschenkt und wunderbarer Weise haben die schwäbischen Sprüche den „Auswärtigen“ viel Freude bereitet, man selbst weiß ja den eigenen Dialekt immer nicht so recht zu schätzen, erst wenn man woanders ist merkt man daß man manches ohne Dialekt nicht so recht ausdrücken kann, irgendwie fehlt dem Hochdeutsch die Leichtigkeit und Treffsicherheit der Dialekte. Ein schön zu lesendes Buch das einen zum Nachdenken bringt und sich an viele eigene Erlebnisse erinnern läßt für die man sich oft nicht die Zeit nahm sie mehr zu hinterfragen. Freu mich schon auf das nächste Werk der Autorin, sie wird mit jedem Buch besser.

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