Marina Lewycka: Das Leben kleben -“ Roman

Marina Lewycka: Das Leben kleben, OT: We Are all Made of Glue, aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24780-1, 454 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 3,5 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A).

’žAlle wurden still, bestürzt über die Eskalation der Ereignisse, und ein Gedanke kam mir, so klar, als flammte in meinem Kopf eine Glühbirne auf: diese Leute sind alle vollkommen verrückt.’œ (Seite 386)

Jede gute Tat rächt sich! Arglos hilft die Journalistin Georgie Sinclair einer alten Dame, die beim Versuch, Gerümpel aus einem Müllcontainer zu zerren, gestürzt ist. Das ist der Auftakt zu einem Schlimmassel, der ihre kühnsten Alpträume übertrifft.

Die alte Dame ist reichlich extravagant zurechtgemacht und stellt sich als Naomi Shapiro vor. Ihre Altersangaben schwanken zwischen 61 und 96, und die Wahrheit dürfte wohl irgendwo in der Mitte liegen. Dass sie allein mit sieben Katzen in einer verfallenen viktorianischen Villa in Georgies Nachbarschaft haust, das stimmt. Dass sie Jüdin ist und in den 40-er Jahren von Hamburg nach London kam, stimmt vermutlich auch. Ansonsten ist ihr Umgang mit der Wahrheit ziemlich kreativ. Georgie Sinclair könnte das eigentlich egal sein. Sie hat nicht mehr als eine oberflächlich-nachbarschaftliche Bekanntschaft im Sinn. Nur widerwillig lässt sie sich von Mrs. Shapiro in die schäbige Villa einladen.

’žCanaan House’œ muss einmal großartig gewesen sein. Jetzt macht es eher den Eindruck, als könne es der Bewohnerin jeden Moment auf den Kopf fallen. Die hygienischen Zustände sind grauenvoll, die Kochkünste von Mrs. Shapiro, die berüchtigt ist für ihre Schnäppchenjagd nach abgelaufenen Lebensmitteln, sind es ebenfalls. Georgie ist froh, dass sie sich bei dem Besuch nichts Schlimmeres eingefangen hat als einen verdorbenen Magen. Und auch wenn die alte Dame noch so faszinierende Geschichten über ihren verstorbenen Ehemann, den weißrussischen Musiker und Geigenbauer Artem Shapiro, erzählen kann ’“ Georgie möchte lieber Distanz halten.

Mrs. Shapiro sieht das freilich anders. Sie kommt überraschend ins Krankenhaus und gibt dort Georgie als nächste Angehörige an. Und nun muss die arme Nachbarin nicht nur die sieben Katzen füttern, deren Dreck wegräumen und auf das alte Haus aufpassen, sie muss sich auch noch mit Mrs. Goodknee von der Sozialstation herumärgern, die offiziell ’žMrs. Shapiros Wohnsituation prüfen’œ will. Doch hat sie auch einen heißen Draht zu einem Immobilienmakler und Interesse daran, Mrs. Shapiro in ein Heim einzuweisen, damit das Haus auf den Markt kommt. Das kann Georgie Sinclair nicht zulassen!

Dabei hat die hilfsbereite Nachbarin doch wahrlich genug am Hals: Georgie, Mitte 40, hat jüngst ihren Ehemann Rip zum Teufel gejagt. Er hatte nur noch Interesse an seiner Arbeit und keine mehr an Frau und Familie. Jetzt ist sie allein erziehende Mutter des 16-jährigen Ben, der seinen Schulwechsel nicht verkraftet und bizarren Endzeit-Szenarien aus dem Internet anhängt. Tochter Stella hadert mit ihrer Berufswahl, die Eltern, einfache alte Leute, werden langsam gebrechlich. Ihr Bruder Keir ist Soldat und im Irak stationiert. Nein, noch mehr Stress und Theater kann Georgie derzeit wirklich nicht gebrauchen!

Ihre Brötchen verdient sie damit, Artikel für das Online-Fachmagazin ’žKlebstoffe in der modernen Welt’œ zu verfassen. Und immer wieder stellt sie fest, dass es im zwischenmenschlichen Bereich ganz ähnlich zugeht wie in der Chemie. So skurril ihre Vergleiche mitunter anmuten mögen, ganz von der Hand zu weisen sind sie nicht. ’žUnd wenn man nur die menschlichen Bindungen richtig hin bekam, vielleicht ergaben sich dann die Details ’“ Gesetze. Grenzen, Verfassung ’“ von ganz allein. Vielleicht ging es einfach darum, den richtigen Klebstoff für diese speziellen Fügeteile zu finden. Erbarmen. Vergabung. Wenn es sie doch aus der Tube gäbe.’œ (Seite 392)

Nebenbei schreibt Georgie an einem Liebesroman. Der ist, nach den Kostproben zu urteilen, die der Leser zu sehen bekommt, so grottenschlecht ist, dass es schon wieder lustig ist.

Dank ihrer wohlmeinender Einmischung sind jetzt nicht nur die Immobilienmakler von Hendricks & Wilson hinter Mrs. Shapiros Canaan House her, sondern auch noch die Makler von Wolfe und Diabello. Wenigstens ist Mark Diabello attraktiv. Georgie beginnt zu ihrer eigenen Überraschung eine Affäre mit ihm.

Während die Immobilienmakler Mrs. Shapiro im Krankenhaus mit Angeboten umgarnen, hütet Georgie Canaan House samt Katzen, fragt sich, wer wohl der ’žPhantomscheißer’œ ist, der stets an der selben Stelle im Haus einen Haufen absetzt, kramt schamlos in Naomis Papieren, wundert sich über auffällige Widersprüche ’“ und stellt eines Tages fest, dass der Schlüssel zur Hintertür geklaut wurde.

Mit dem Austauschen des Schlosses beauftragt sie den Handwerker Mustafa al Ali, den sie aus dem Baumarkt kennt, und den sie für einen Pakistaner hält. Seine Reaktion auf die Fotos und religiösen Kultgegenstände in Mrs. Shapiros Haus belehren sie eines Besseren: al Ali ist Palästinenser.

Ob einer der Immobilien-Interessenten Mrs. Shapiro aus dem Haus mobben will? Kaum ist sie wieder zu Hause, gehen die Sabotageakte los ’“ und gipfeln in einem tätlichen Angriff auf die alte Dame, der sie erneut ins Krankenhaus bringt. Auf diese Gelegenheit scheinen die Aasgeier von der Sozialstation nur gewartet zu haben: Man verfrachtet Naomi in ein Altenheim, wo sie weder Besuch empfangen noch telefonieren darf. ’žDie haben sie heut Morgen weggebracht’œ, berichtet ihre Mitpatientin Lillian Brown. ’žHeut Morgen. Die hat sie schön beschimpft. Das hätten Sie mal hören sollen. Und ich hab gedacht, sie wäre eine Dame.’œ (Seite 227)

Georgie hat immer noch Hoffnung, dass Mrs, Shapiro in ihr Haus zurückkehren kann und lässt Mr. al Ali die Dachrinne reparieren. Mittlerweile hat er zwei Assistenten, die er nicht umsonst ’ždie Nichtsnutze’œ nennt: seinen Neffen Ismael und dessen Kumpel Nabil. Als sich herausstellt, dass die beiden jungen Männer dringend eine Bleibe suchen, quartiert Georgie sie bis zur Rückkehr Mrs. Shapiros als Housesitter und Hausmeister in Canaan-House ein.

Inzwischen kennt die Journalistin den palästinensischen Handwerker al Ali gut genug, um ihm seine traurige Familiengeschichte zu entlocken. So lernt sie, nach Mrs. Shapiros von Holocaust und Zionismus geprägter Weltsicht, auch die palästinensische Seite des Nahostkonflikts kennen.

Überraschend gelingt Naomi Shapiro die Flucht aus dem Altenheim. Und weil die beiden palästinensischen ’žNichtsnutze’œ so schnell keine andere Unterkunft finden, lässt sie sie im Canaan House wohnen und erklärt sie spontan zu ihren Betreuern. Dann steht auf einmal Chaim Shapiro vor der Tür, Naomis Sohn, der aus Israel eingeflogen ist, um hier mal nach dem Rechten zu sehen. Und nicht nur das! Mit ein paar Sätzen macht er Georgie und den Palästinensern klar, dass das meiste, was die alte Dame ihnen erzählt hat, Bullsh*t war.

Wenn Immobilienmakler Nicky Wolfe wüsste, was Georgie und die Canaan-WG nun wissen, würde er den Plan, Mrs. Shapiro wegen des Hauses zu heiraten, noch einmal überdenken …

Ist mit dem Einzug von Naomis Sohn ins Canaan House nun alles in Butter? Sind die fiesen Sozialheinis in die Schranken gewiesen, die gierigen Immobilienhändler gebändigt? Mitnichten! Die eigenwillige alte Dame hat sich lediglich den Nahostkonflikt im Kleinformat ins Haus geholt. Die Aasgeier draußen intrigieren, während Chaim und die Palästinenser reparieren, renovieren, diskutieren und politisieren: ’žDas Problem mit euch Arabern ist’œ, sagte Chaim, ’žihr sucht euch immer schlechte Anführer aus.’œ ’“ ’žWeil ihr Juden alle guten in Gefängnis steckt.’œ (Seite 439)

Läuft also alles weiter wie bisher? Nicht ganz! Denn nicht nur die alte Dame hat über Jahrzehnte hinweg ein Geheimnis gehütet, sondern auch die alte Villa. Und so erleben Freund und Feind zu guter Letzt noch eine Überraschung. Und die ist ein echter Kracher …

Ein Roman, der zum Wiehern komisch ist, ohne dabei albern zu werden, und der Themen behandelt wie den Holocaust, den Nahostkonflikt, Vertreibung, Alter, Pflegebedürftigkeit, Einsamkeit, Ehekrisen und Teenager-Probleme ’“ wie passt das zusammen? Mit dem richtigen Kleber geht alles! Und auch wenn man manchmal heftig zwischen Komik, Mitgefühl und Entsetzen hin- und hergeschleudert wird, ist Marina Lewyckas Roman DAS LEBEN KLEBEN sehr vergnüglich zu lesen.

Die anarchische und bisweilen schandmäulige Exzentrikerin Naomi, die mit ihren sieben Katzen in einer heruntergekommenen Villa haust, ist auf den ersten Blick eine komische alte Schachtel ’“ und auf den zweiten Blick eine tragische Figur. Doch stellt die Autorin sie nicht in die Opfer-Ecke. Sie lässt sie eigensinnig und unbeugsam für ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit kämpfen.

Die Nebenfiguren sind nicht weniger schräg und schicksalsgebeutelt. Und sie geben mit ihren politischen Disputen nicht nur einen Einblick in die Hintergründe des Nahostkonflikts, sie entdecken auch, wie ’“ zumindest im Mikrokosmos des Canaan House ’“ das Zusammenleben verschiedener Gruppierungen halbwegs funktionieren kann.

Auch Georgie lernt dazu. Nicht nur über den Nahostkonflikt, der für sie bislang nur eine irrelevante Klopperei irgendwo am Ende der Welt war. Ihr Roman endet im Zuge der Ereignisse anders als geplant. Das Rachekapitel streicht sie. Und auch die Beziehung zum Ex-Gatten in spe überdenkt sie. ’žIch merkte, dass sich etwas in mir verschoben hatte ’“ Rache interessierte mich nicht mehr besonders. Ich war bereit, nach vorn zu blicken.’œ (Seite 415)

Und so ist der Roman komisch und traurig, skurril und doch glaubhaft, traurig und dennoch hoffnungsvoll, informativ und auf jeden Fall unterhaltsam.

Die Autorin
Marina Lewycka wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und wuchs in England auf. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter, lebt in Sheffield und unterrichtet an der Sheffield Hallam University. Ihr erster Roman ’žKurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch’œ wurde zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte, eroberte die internationalen Bestsellerlisten, wurde in 33 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
http:// edithnebel.wordpress.com

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