Linda Castillo: Die Zahlen der Toten ’“ Thriller, OT: Sworn to Silence, aus dem Amerikanischen von Helga Augustin, Frankfurt am Main 2010, Fischer Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-596-18440-8, 430 Seiten, Format: 12,5 x 19 x 3 cm, EUR 8,95 (D), EUR 9,20 (A).
’žEr stößt einen Pfiff aus. ’šEine waffentragende, fluchende, ehemals amische Polizeichefin. Ich fass es nicht.’™’œ (Seite 229) Die Rede ist von Chief of Police Kate Burkholder, 30. Nach einem traumatischen Erlebnis im Teenageralter ist es für sie mit der Illusion von der Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit der ’žAmish People’œ ein für allemal vorbei.
Mit 18 verlässt sie ihre Familie und die amische Gemeinde in Painters Mill, Ohio, tritt ahnungslos und mittellos in die Welt der ’žEngländer’œ ein und wird schließlich Polizistin in Columbus, Ohio: sechs Jahre Streife, zwei Jahre als Detective bei der Mordkommission.
Bei ihrer Familie und der Amisch-Gemeinde steht sie seit dieser Entscheidung unter Bann. Das heißt, die Leute reden zwar mit ihr, aber von weiteren sozialen Kontakten ist sie ausgeschlossen. In Columbus war ihr das weitgehend egal, aber vor zwei Jahren ist sie wieder in ihre Heimatstadt Painters Mill zurückgekehrt und hat die Nachfolge des altershalber ausgeschiedenen Chief of Police McCoy angetreten. ’žIch war die perfekte Kandidatin: Ich hatte acht Jahre Diensterfahrung, einen Abschluss in Strafrecht und war in der Stadt aufgewachsen. Ich sprach fließend Pennsylvaniadeutsch, kannte die amische Kultur und stand ihrer Lebensweise verständnisvoll gegenüber.’œ (Seite 70)
Kate hat ihre Rückkehr nicht bereut ’“ bis jetzt. Denn nun holt sie die Vergangenheit mit voller Wucht wieder ein. Der ’žSchlächter’œ ist zurück, ein Frauenmörder, der vor 16 Jahren schon einmal in der Gegend Angst und Schrecken verbreitet hat. Er entführt junge Frauen, hält sie tagelang gefangen, foltert sie auf unvorstellbar grausame und perverse Art und schneidet ihnen schließlich die Kehle durch. Wie zum Hohn nummeriert er seine Opfer, indem er ihnen jeweils eine römische Ziffer in den Bauch schneidet. Ein Detail, das niemals an die Öffentlichkeit drang.
Kate Burkholder ist sicher, dass das nicht derselbe Mann sein kann wie damals und dass sie einen Nachahmungstäter suchen. Eine Begründung dafür kann sie nicht liefern, weil sie sonst erklären müsste, was aus dem Serienmörder von damals geworden ist ’“ und wer dafür verantwortlich zeichnet. Und das hätte fürchterliche Konsequenzen für sie und ihre Familie. Nun kann sie nur hoffen, dass die Ereignisse von vor 16 Jahren nicht ans Licht kommen und dass der Nachahmungstäter rasch gefasst wird.
Das letzte, was sie deshalb derzeit gebrauchen kann, ist Unterstützung von außen. Die Hilfe des FBI, die Bürgermeister und Stadtrat eilends herbeigerufen haben, wimmelt sie noch elegant ab. John Tomasetti vom BCI, dem Ohio Bureau of Criminal Identification and Investigation, den man ihr danach aufs Auge drückt, lässt sich aber nicht so einfach abschütteln. Für ihn, ein tablettensüchtiges Wrack, ist dieser Einsatz die letzte Chance. Wenn er den vergeigt, ist er weg vom Fenster. Dann feuern sie ihn.
Es ist ohnehin ein Wunder, dass sie Tomasetti so lange bei den Gesetzeshütern behalten haben. Der Kerl hat nämlich so viel Dreck am Stecken, dass es locker für ’žlebenslänglich’œ reichen würde … wenn man ihm denn etwas nachweisen könnte. Aber er ist mit allen Wassern gewaschen. Und so dauert es auch nicht lange, bis er hinter Kate Burkholders Familiengeheimnis kommt.
Inzwischen gibt es ein zweites Opfer, und Kate ist selbst nicht mehr sicher, dass der Schlächter tot ist. Zu exakt gleichen die Taten von heute denen von damals. Das lässt zwei mögliche Schlüsse zu: Der Täter hat die Ereignisse vor 16 Jahren entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebt. Oder aber er war der falsche und der wahre Schlächter lief all die Jahre frei herum. Vielleicht mordete er sogar in anderen Bundesstaaten fleißig weiter, ohne dass man je in Painters Mill davon erfahren hat? Die fortlaufende Nummerierung der Toten spräche für diese Theorie.
Jetzt hilft nur noch gute, altmodische Polizeiarbeit. Kate zapft ihre persönlichen Kontakte an, durchforstet Datenbanken, Zeitungsarchive, Umzugsdaten und Listen leerstehender Gebäude, in denen der Schlächter ungestört foltern und morden könnte.
Als es ein drittes Opfer gibt, wird Kate wegen Unfähigkeit gefeuert. Sheriff Detrick übernimmt den Fall und präsentiert in der Tat kurz darauf einen Tatverdächtigen, der Kates Meinung nach in keinster Weise ins Täterprofil passt. Da wollte wohl jemand einen schnellen Erfolg vorweisen.
Kate ermittelt trotz ihrer Entlassung privat weiter. Tatsächlich stößt sie in ihren Listen und Berichten auf einen möglichen Zusammenhang. Der Schlächter ahnt nicht, dass Kate ihm auf der Spur ist, bis sich ein etwas übereifriger Informant verplappert. Jetzt ist der Serienmörder gewarnt ’“ und Kate Burkholder auf einmal verschwunden.
Das Finale ist blutig und brutal und mörderisch spannend.
Man sieht schon: Ein beschaulicher ’žHäkelkrimi’œ ist das hier nicht. Hier geht es höchst explizit zur Sache, grausam, detailliert beschrieben, blutig, eklig … Und sehr amerikanisch ist die Geschichte auch noch: das behördliche Zuständigkeitsgezicke zwischen der lokalen Polizei, dem FBI und dem BCI … der Cop, der sich mit dem organisierten Verbrechen eingelassen hat und der selben Methoden bedient wie die, die er verfolgt … der Polizist, der seine Familie durch ein Attentat verloren hat und seither ein psychisches Wrack ist … das sind Versatzstücke, die man aus Filmen und Fernsehserien kennt.
Dass man den Thriller trotzdem nicht als ’žplatte Krawumm-Action für Hirnis’œ ablegen muss, liegt an Chief of Police Kate Burkholder, die zwischen der modernen Welt der ’žEngländer’œ und der fremden Welt der Amisch hin- und herwandert und uns Einblicke in das Denken und Leben einer Gemeinschaft bietet, mit der wir hier in Europa sonst gar nicht in Kontakt kommen. Wir kennen hier die Amisch mehr oder weniger aus den Medien oder vielleicht noch aus Erzählungen US-amerikanischer Verwandter oder Bekannter. Dieser permanente Kulturclash macht den Thriller außergewöhnlich und interessant. Und es würde mich wundern, wenn nicht schon die ersten Interessenten auf der Matte stünden, die aus DIE ZAHLEN DER TOTEN einen Film machen wollen.
Macht mal! Aber bitte nicht gar zu widerlich und detailliert …!
Erwähnt werden sollte noch, dass ein Großteil des Romans aus Sicht Kate Burkholders geschildert wird. Sie spricht als Ich-Erzählerin und im Präsens. Was Tomasetti, die Kollegen und die Leute im Ort erleben, das wird in dritter Person und im Präteritum erzählt. Da erweitert zwar den Blickwinkel des Lesers, ist aber bisweilen verwirrend. Man muss sich alle paar Seiten umorientieren, wobei der ständige Zeitenwechsel etwas irritierend sein kann. Wer solche Mätzchen gar nicht mag, der sei hiermit gewarnt.
Die Autorin:
Linda Castillo hat für Ihre Veröffentlichungen verschiedene Preise gewonnen, einschließlich des Daphne du Maurier Award of Excellence, die Holt-Medaille and und eine Nominierung für die Rita. Sie lebt mit ihrem Mann in Texas.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http:// edithnebel.wordpress.com