Kerstin Pflieger: Die Alchemie der Unsterblichkeit, München 2011, Wilhelm Goldmann Verlag, ISBN: 978-3-442-47483-7, Softcover, 351 Seiten, Format: 20,6 x 13,4 x 3,2 cm, EUR 12,00 [D] , EUR 12,40 [A], CHF 17,90.
„Vor weniger als einer Woche hätte er über Irrlichter, Vampire, Ghoule, Geister und Werwölfe gelacht und sie im festen Glauben an die Erkenntnisse der Wissenschaft als einfachen Aberglauben abgetan. Nun fürchtete er sich vor Irrlichtern und sehnte sich magische Wölfe herbei. (…) Er hoffte, dass von seinem rationalen Verstand etwas übrig war, sollte er jemals nach Karlsruhe zurückkehren.“ (Seite 182)
Karlsruhe, 1771. Die Gegend wird von einer Hungersnot geplagt. Der junge Icherios Ceihn haust unter ärmlichen Bedingungen in einer Kellerwohnung und wartet auf einen Studienplatz für Medizin. Er könnte es besser haben: Er müsste nur in die Firma seines Vaters eintreten. Doch er will kein Getreidehändler werden. Verhungern will er allerdings auch nicht, also nimmt er einen Auftrag des Ordo Occulto, einem geheimen Orden der Rosenkreuzer an.
Ausgestattet mit einer üppigen Reisekasse und einem Minimum an Informationen schickt ihn der Orden in ein Dorf im Schwarzwald. Der Fürst Calan von Sohon hat um Hilfe gebeten bei der Aufklärung zweier bestialischer Morde, die einen rituellen Hintergrund haben könnten.
Icherios rafft seine Habseligkeiten zusammen, schnappt sich sein Haustier, die Ratte Maleficium, und tritt die Reise an. Schon die Anfahrt ist ein Abenteuer: Das Reisen in einer Postkutsche ist nicht gerade komfortabel und gefährlich ist es auch. Noch dazu entpuppen sich manche Mitfahrenden als wahre Nervensägen. Doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was ihn bei seiner Ankunft erwartet.
Niemand hat ihm explizit gesagt, dass Dornfelde im Dunklen Territorium liegt, einer Gegend, die aus gutem Grund von den Menschen gemieden wird. Erst kann und will der rational denkende Icherios nicht glauben, was er da sieht. Und erst recht nicht, was die Leute ihm erzählen. Doch mit seiner Überzeugung, dass es für alles eine wissenschaftliche Erklärung gibt, kommt er hier nicht weit. Im Dunklen Territorium existiert tatsächlich all das, was er bislang für Phantasiegestalten aus Gruselgeschichten gehalten hat: Vampire und Werwölfe, menschenfressende Irrlichter, Geister und Ghoule. Und eine Spezies, von der er noch nie etwas gehört hat: die Worge. Das sind riesige, blutdurstige und kampferprobte Wölfe mit überlangen Fangzähnen.
Man quartiert Icherios im Haus des Bürgermeisters Arken ein. Der hat einen muffeligen Gehilfen sowie ein weibliches Hausgespenst, das in schlechten Reimen spricht. Und er hat zwei Töchter: Loretta ist hübsch und blond und will nichts wie weg aus dem Kaff. Ihre Schwester Maribelle ist geistig verwirrt und in einem Kellerraum eingesperrt.
Wenigstens sind die Bewohner dieses Haushalts – bis auf das Gespenst, natürlich – Menschen. Der Fürstenclan dagegen besteht ausnahmslos aus Vampiren. Die Männer und Frauen für die groben Arbeiten im Dorf sind Werwölfe. Irgendwie haben sich die verschiedenen „Bevölkerungsgruppen“ miteinander arrangiert, auch wenn sie sich misstrauisch gegenüberstehen.
Dem Dorfpfarrer wäre es allerdings am liebsten, wenn das ganze nichtmenschliche Gesindel vom Angesicht der Erde verschwinden würde. Und so stört es ihn nicht besonders, dass der Serienmörder fleißig weitermacht und abwechselnd einen Vampir und einen Werwolf tötet.
Auch andere Dorfbewohner haben ihre Gründe, nicht mit „Inspektor“ Icherios zu kooperieren. Und so rennt der arme Kerl bei seinen Ermittlungen ständig gegen eine Wand.
Da ist es auch nicht hilfreich, dass er sich mit einer verführerischen Dame einlässt und gleichzeitig einer anderen Hoffnungen macht, sie nach Erfüllung seines Auftrags mit nach Karlsruhe zu nehmen. Man begibt sich auch nicht nachts auf Monsterjagd und vergisst die Waffen daheim! Da kann man es den Dörflern nicht verübeln, dass sie Ceihn für einen ausgemachten Trottel halten.
Im Gegensatz zu Inspektor Ceihn ahnt der Leser ziemlich früh, wer hinter den Serienmorden steckt. Aber die Welt, die Kerstin Pflieger hier geschaffen hat, ist so phantasievoll, schaurig-schön und wild, dass das gar kein Drama ist. Gerne begleiten wir Icherios und seine wenigen Getreuen bei ihren haarsträubenden Abenteuern und sehen zu, wie er’s wieder mal vermasselt.
Als Icherios schließlich allen Widerständen zum Trotz herausfindet, was die Honoratioren im Dorf so alles zu verbergen haben, kennt er auch den Täter. Aber wird er dieser Person das Handwerk legen können ehe sie ihr finsteres Werk vollenden kann?
Wer bei dem Namen des Helden Ichabod Crane aus „Sleepy Hollow“ denken muss, liegt richtig. Der Roman ist eine Hommage an die Geschichte von Washington Irving und an Tim Burtons Verfilmung aus dem Jahr 1999. Dabei ist er kein Abklatsch seiner prominenten Vorbilder geworden, sondern ein eigenständiges Werk. Wer den Film kennt, wird bei Icherios Ceihn manchmal Johnny Depp in seiner Rolle als Ichabod Crane vor Augen haben. Nun, es gibt Schlimmeres … 😉
Johnny Depp trifft also auf die Ureinwohner der Schauermärchen – und das mitten im Schwarzwald! Zumindest als Leser aus dem süddeutschen Raum kann man kaum umhin, sich nun badisch schwätzende Vampire und Werwölfe vorzustellen. Diese Gedanken sollte man allerdings schleunigst verdrängen, denn das nähme den unheimlichen Gestalten viel von ihrer Düsternis. Heute ist man als Leser ja dankbar, wenn man mal wieder so richtig sinistere Blutsauger und gefährliche Wolfsmenschen präsentiert bekommt und keine blässlichen Weicheier. Das Personal in Kerstin Pfliegers Mystery-Krimi gehört definitiv nicht in die Kategorie „Kuschelmonster“. Und das ist gut so.
Überbordende Phantasie kann man dem Roman ebenfalls bescheinigen sowie ein atemberaubendes Tempo, einen Schuss Humor und gruselig-brutale (Mord-)Szenen, die nichts für zart besaitete Gemüter sind. Der Held ist kein Übermensch, sondern ein etwas unsicherer und linkischer junger Mann, der die ganze Zeit glaubt, im falschen Film zu sein. Ist er ja auch: ein Skeptiker im Horrorland.
Wer es gewöhnt ist, genau auf die Sprache zu achten, dem werden ein paar vermeidbare Wiederholungen und Satzfehler auffallen. Im 1. Kapitel nervt der Ordenschronist mit seinem ständigen „Jetzo“. Beim großen Showdown stolpert man mehrfach hintereinander über die Formulierung „der junge Gelehrte“. Ja, schon klar: Man kann nicht immer nur „Icherios“ schreiben. Das wird ja auch fad.
Das ist jetzt nichts, was das Lesevergnügen nachhaltig beeinträchtigt. Aber es soll hier nicht unerwähnt bleiben.
Ein netter Service ist das übersichtliche Personenverzeichnis im Anhang. Auch wenn es sich um Ungeheuer aus dem Schwarzwald handelt, haben sie doch exotisch-komplizierte Phantasienamen, die man sich nicht so einfach merken kann. Nützlich ist auch Glossar, das kurz und knackig ein paar weniger bekannte Begriffe erklärt.
Laut Klappentext ist der Band der Beginn einer neuen Mystery-Serie. Das könnte in der Tat amüsant werden. Originell ist Icherios’ Welt allemal. Außerdem wüsste man jetzt schon gern, wie „der junge Gelehrte“ zu seinen Narben gekommen ist, wer seinen Kumpel Vallentin getötet hat – und was auf einmal mit seiner Ratte Maleficium los ist …
Die Autorin:
Kerstin Pflieger wurde 1980 in Neuss geboren und wuchs in einer Surferfamilie auf. Durch Reisen an die Küsten Europas, Afrikas und Asiens lernte sie unterschiedliche Kulturen und Denkweisen kennen. Nach dem Abitur studierte sie Biologie in Heidelberg und arbeitet unter anderem für ein Institut zur biologischen Stechmückenbekämpfung. Kerstin Pflieger lebt mit ihren Hunden im Landkreis Heilbronn.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http://www.boxmail.de