Janine Binder: Seine Toten kann man sich nicht aussuchen. Eine Polizistin erzählt, München 2011, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-27314-5, 253 Seiten, Softcover, Format: 12 x 19 x 2 cm, EUR 8,99 (D), EUR 9,30 (A).
„… machen Sie sich selbst ein Bild von meinem Traumberuf und schieben Sie mit mir und meinen Kollegen Dienst. Erleben Sie ein paar Einsätze, schauen Sie sich an, wie es ist, Streife zu fahren. Vielleicht sehen Sie dann in Zukunft einen Streifenwagen, der an Ihnen vorbeifährt, mit anderen Augen“ (Seite 11)
Als ich vor ein paar Jahren einige Geschichten der Polizeibeamtin Janine Binder in einem Internetforum entdeckte, war meine spontane Reaktion: „Wow! Gibt’s das auch als Buch?“ Damals hat man mich noch an die Kurzgeschichtensammlungen der „Polizeipoeten“ verwiesen, in denen die Autorin einzelne Beiträge veröffentlicht hat. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommen würde, exklusiv ihre Geschichten in einem Buch zu veröffentlichen. Hier ist es nun!
Erst 16 Jahre ist Janine Binder alt, als sie sich bei der Polizei bewirbt. Sie hat noch andere Optionen. Doch als der Einstellungsbeamte sich herablassend über die 1,58 m kleine, zierliche junge Frau äußert und ihrer Mutter ins Gesicht sagt: „(…) das schafft das Mädchen sowieso nicht!“ (Seite 28), ist ihr Ehrgeiz geweckt. Diesem Dummschwätzer wird sie’s zeigen! Und so wird sie Polizistin.
Dass der interessante aber harte Job sie verändert und sie ihren Freunden entfremdet, wird ihr erst nach und nach bewusst. Ihre Altersgenossen gehen weiter zur Schule und dürfen noch eine Weile Kind bleiben, während sie groß und stark wirken und Ansprechpartnerin und Problemlöserin für jedermann sein muss. Und Dinge erlebt, die ihren Freunden allenfalls in deren Albträumen erscheinen. Trotzdem möchte sie mit niemandem tauschen.
Nach ihrer Ausbildung kommt sie zur Autobahnpolizei Köln. Langweilig stellt sie sich diese Arbeit vor, und ahnt nicht, wie sehr sie sich damit täuscht. Gleich einer der ersten Einsätze beschert ihr einen Unfall mit verbrannten Leichen und einem geschockten Kind, das bei dem Unglück seine Angehörigen verloren hat. – Als sie einen Geisterfahrer stoppen muss, legt sie einen filmreifen, hoch riskanten Stunt hin. – Und das „tote Wildschwein“ auf der Fahrbahn entpuppt sich als Brückenspringer, der von einem LKW überfahren wurde. „Der Leichenwagen ist angekommen. Mit einer Schaufel tragen die Bestatter die Leichenteile zusammen“. (Seite 59). Da hat ihr der Autofahrer, der sie ampampt, weil’s nicht weitergeht, gerade noch gefehlt! – Ans Eingemachte geht’s, als ein „internistischer Notfall auf der A 4“ gemeldet wird und Janine die durchgegebene Autonummer als die des LKWs ihres Vaters erkennt. Im Tiefflug brettert sie an den Ort des Geschehens …
Es gibt immer wieder Ereignisse, die ihr trotz professioneller Distanz an die Nieren gehen. Da ist der Fall einer schwer verletzten, stark alkoholisierten Frau, die sie in ihrer Wohnung vorfinden. Auch ein fast verdursteter Hund ist dort. Aber wo ist das Kind? Als Janine das Schlafzimmer betritt, bleibt ihr beinahe das Herz stehen …
Nicht alle Täter erwischt man und nicht allen Menschen kann man helfen. Teenager Jon hat schon mehrere Suizidversuche hinter sich. Dieses Mal kommen die Polizisten zu spät. Und als Janine sechs Wochen lang beim Fachkommissariat für Sexualdelikte und Kinderpornographie „sichergeschellte Speichermedien sichten“ soll, sieht sie unfassbare Szenen.
Nach sechseinhalb Jahren bei der Autobahnpolizei fährt Janine Streife im sozialen Brennpunkt Köln-Chorweiler, wo sie es häufig mit jugendlichen Kleinkriminellen zu tun bekommt. Eine Sisiphusarbeit! Selbst wenn die Jungs erwischt werden und in den Knast wandern, werden sie nichts Sinnvolles daraus lernen. Nicht einmal ein paar kreative neue Schimpfwörter.
Manche Einsätze sind skurril: Wenn durchgeknallte, gelangweilte, einsame oder psychisch erkrankte Personen den Notruf missbrauchen … wenn man so tun muss, als teile man die Wahnvorstellungen eines Psychotikers, um ihn in die Psychiatrie einliefern zu können. Oder wenn man vor der Herausforderung steht, 400 Schafe von der Autobahn zu entfernen. Einzeln wegtragen kann man sie nicht und der Schäfer ist nicht greifbar. Da hat Funker Tim eine Idee, die sich bescheuert anhört …
Anderes ist schlichtweg eklig. Um die komplette Durchsuchung einer Person inklusive Inspektion aller Körperöffnungen reißt sich kein Polizist. Wenn man Janine Binders anschauliche Fallbeispiele gelesen hat, weiß man auch, warum. Und da war noch der Fall, bei dem Janine und Kollege Uwe mitten im Hochsommer zu einer Wohnung in Köln-Kalk gerufen werden, in der ein Toter liegt. Und der liegt da unüberriechbar schon länger. Die eintreffenden Bestatter kommentieren den Leichenfund mit dem ihnen eigenen Humor: „Scheint, als wärt ihr Kandidaten für das Prädikat ‚Ekligste Leiche des Sommers.‘“ (Seite 111). Nur gut, das Janine mit sowas kein Problem hat. Aber auch sie hat eine Schwachstelle …
Das Grausen und Fürchten aus sicherer Distanz heraus ist sicher ein Grund dafür, dass die „Wir-begleiten-die-Ordnungshüter-bei-der-Arbeit“-Geschichten beim Publikum so gut ankommen. Die Fernsehserie „COPS“ ist eines der langlebigsten TV-Formate im amerikanischen Fernsehen. Wir haben die Reihe vor 20 Jahren schon mit Begeisterung verfolgt. In Deutschland läuft in der x-ten Wiederholung „Mein Revier“, „Achtung, Kontrolle“ und „Schneller als die Polizei erlaubt“. Man konsumiert die Episoden mit einem gewissen Voyeurismus, als Kurzkrimis, bei denen die Bösen am Schluss ihr Fett wegkriegen, und mit ein bisschen Schadenfreude, weil sich die Rechtsübertreter manchmal gar so blöd anstellen. Tiefer gehen die Fernsehserien nicht. Was der Job mit der Polizei & Co. macht, ist dort nicht das Thema.
Natürlich sind Janine Binders Kurzgeschichten auch so eine Art „Minikrimis für Ungeduldige“, aber sie gehen deutlich weiter. Sie machen uns deutlich, was in den Polizisten bei den Einsätzen vorgeht. Ihre Texte wurden ja auch nicht geschrieben, um die Neugier der Leser zu befriedigen, sondern um das Erlebte zu verarbeiten. „Meine Gedanken werden dann zu einer Geschichte, die mich nicht mehr bedrücken, mir keine Angst mehr machen und nur noch selten traurig stimmen kann“, erklärt die Autorin (Seite 10). Dass ein Buch daraus wurde, ist eher ein erfreulicher Nebeneffekt.
„Vielleicht haben Sie jetzt ein bisschen mehr Verständnis für die Polizistin, die schlecht gelaunt Ihre Anzeige aufnimmt, weil sie gedanklich noch bei der Kinderleiche ist, die sie eben gefunden hat“, schreibt Janine Binder in ihrem letzten Beitrag (Seite 252). Ja. Theoretisch ist uns so einiges klar geworden, nachdem wir die Polizeibeamtin durch ihren Arbeitsalltag begleitet haben. Wenn wir aber in der Praxis die Hilfe der Polizei brauchen, werden wir wohl trotzdem ein Bürger im psychischen Ausnahmezustand sein und uns vermutlich genauso irrational aufführen wie die meisten Menschen, mit denen Janine und ihre Kollegen beruflich zu tun haben.
Dass die Polizisten all das auch nicht so einfach wegstecken, wissen wir jetzt. Dass die ständigen Begegnungen mit Menschen in Extremsituationen Einfluss auf ihr generelles Menschenbild haben könnten, schließen wir nicht aus. Verübeln könnten wir es ihnen nicht.
Die Autorin
Janine Binder, geboren 1981, ist seit 1998 als Polizisten im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Nach Stationen bei der Autobahnpolizei und im sozialen Brennpunkt Köln-Chorweiler ist die Polizeikommissarin seit dem Abschluss ihres Studiums in Köln-Porz unterwegs. Da der Dienst nicht immer nur schöne Seiten hat, hat sie zur Verarbeitung der weniger schönen Dinge das Schreiben für sich entdeckt.
Rezensent: Edith Nebel
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