Liv Winterberg: Sehet die Sünder

Liv Winterberg: Sehet die Sünder, München 2012, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24940-9, Softcover/Klappenbroschur, 430 Seiten, Format: 20,8 x 13,4 x 4,6 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A).

Das Lese-Exemplar (rot) hatte ein anderes Cover als die spätere Print-Ausgabe (beige). Das rote Cover scheint bei der Kindle-Edition weiter Verwendung zu finden.

„Sehet euch um. Sehet die Sünder, die ihr selbst seid, kleine und große Sünder, die darauf hoffen, trotz allem Gottes Gnade zu erfahren. Doch einer von uns, eben derjenige, der Babettes Tod zu verantworten hat, sollte jetzt vortreten. Es ist der rechte Zeitpunkt, sich zu offenbaren. (…)“ (Seite 126)

Bretagne, 1440: Im Dorf Saint Mourelles und in der näheren Umgebung verschwinden plötzlich Menschen: Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen aller Altersklassen. Manche findet man ermordet irgendwo in Wald und Feld, andere tauchen nie wieder auf. Amédé de Troyenne, den Baron und Lehensherrn, interessiert das zunächst nicht übermäßig, er hat genügend eigene Probleme. Auch der Kirche sind ein paar getötete Dörfler egal.

Catheline Cogul, die Haushälterin des alten Gemeindepfarrers Jeunet, hat einen Verdacht: Da steckt jemand aus dem Schloss dahinter! Hat man nicht Stiefel- und Hufeisenspuren in der Nähe der Leichen gefunden? Und sind die Pferde des Barons nicht auf eine unverwechselbare Weise beschlagen? Als eine silberne Gewandspange bei einem der Toten gefunden wird, ist für sie der Fall klar: Der widerliche Hauptmann war’s. Oder gar der Baron selbst.

Baron Amédé de Troyenne, muss man wissen, war einmal ein anständiger und gottesfürchtiger Mann und ein umgänglicher, gerechter Lehensherr. Doch seit er im Krieg war und seinen jüngeren Bruder bei einem Überfall verlor, ist er vollkommen verändert. Heute würde man sagen: traumatisiert und psychisch auffällig. Er führt ein ausschweifendes Leben und macht Schulden, die er dann durch den Verkauf von Ländereien begleicht. Und er schreckt vor nichts zurück, um wieder zu Geld zu kommen.

Pfarrhaushälterin Catheline ist über die Vorgänge im Schloss des Barons gut informiert: Ihre Schwester Jola ist dort Magd. Der gehbehinderte Bauer Mathis Maury, den Catheline zu heiraten gedenkt, will von ihren Theorien nichts wissen. Er hat dem Baron einmal das Leben gerettet und sich dabei seine Behinderung zugezogen. Dass er seine körperliche Unversehrtheit und seine Zukunft für einen Serienmörder ruiniert haben könnte, mag er sich gar nicht vorstellen. Und wenn der Baron etwas mit den Gräueltaten zu tun hätte, wäre er doch sicher nicht mitgeritten um den Mörder zu suchen. Oder?

Es gibt durchaus Personen, den es eine Freude wäre, dem Baron unsägliche Schandtaten anzulasten. Könnte man ihm den Inquisitionsprozess machen, fielen seine Ländereien an die Kirche. Und Gregor du Clergue, Bischof von Nantes und Schatzmeister von Herzog Johann, müsste sie ihm nicht mehr einzeln unter Wert abkaufen.

Julien Lacante, Schreiber und Notar des Bischofs käme eine Hinrichtung des Barons gleichfalls gelegen, hat er doch Interesse an dessen Ehefrau Bérénice, die er seit Kindertagen kennt. Er versteht es, ihr Vertrauen zu nutzen. Doch so leicht lässt sich der Baron nicht kaltstellen. Er ist ein gerissener Stratege, hat wenig Skrupel und treue Verbündete.

Als Resultat all dieser Intrigen und Winkelzüge steht auf einmal eine harmlose Dorfbewohnerin als Hexe da – und als Mordverdächtige. Dass von den hohen Herren keine Hilfe zu erwarten ist, ist den Bauern von Saint Mourelles klar. In dem Prozess geht es schließlich nicht um Wahrheitsfindung, sondern um Macht und Geld. Um ihre Angehörige und Freundin zu retten, müssten sie schon den wahren Täter überführen …

Ein Serienmörder im Mittelalter, das ist schon ein faszinierendes Szenario. Die Geschichte beruht sogar auf einem realen Fall, was die Autorin im Anhang kurz erklärt. Das ist hochinteressant, doch alle „Anhang-vorab-Leser“ seien gewarnt: Wer Liv Winterbergs Ausführungen über den geschichtlichen Hintergrund des Prozesses (Seite 421 ff.) zuerst liest, erfährt darin mehr über die Romanhandlung als er vielleicht wissen möchte.

Den allgemeinen geschichtlichen Hintergrund (Seite 419 ff.) sowie das Glossar (Seite 425 ff.) und natürlich die praktische Personenübersicht ( (Seite 5 ff.) kann man sich gerne vorab ansehen. Für LeserInnen, die in Geschichte nicht besonders sattelfest sind und sich von dem Roman hauptsächlich einen Krimi in einem ungewöhnlichen Umfeld versprechen, ist das vielleicht sogar eine gute Idee.

Historienmuffel, die längst vergangenem Schlachtengetümmel und der Frage „wer-warum-gegen-wen“ partout nichts abgewinnen können, dürfen aber auch schummeln und die entsprechenden Schilderungen im Buch querlesen. Man muss kein Experte in Sachen Hundertjähriger Krieg, Erbfolgekrieg und Praguerie sein, um der Krimihandlung folgen zu können. Wer nur auf Krimi aus ist, für den wird es aber erst ab der Hälfte des Buchs so richtig spannend, wenn die einzelnen Parteien um die Wette intrigieren und sich der übelsten Tricks bedienen.

Sprach-Erbsenzähler werden ab und zu mal nach dem Duden greifen. Die Nachtmahr, nicht der? Echt jetzt? Geschlechtsumwandlung? Und heißt „wohlfeil“ nicht „günstig, billig“? Hier wird’s als Synonym für „gut“ verwendet: „Das Fest (…) war wohlfeil vorbereitet, alles war gut gewählt und sehr gefällig arrangiert.“ (Seite 53). Das sind natürlich Kleinigkeiten, aber die lassen manchen Leser misstrauisch werden: „Hat sich überhaupt jemand den Text angeschaut? Ist das richtig, was man uns hier erzählt?“ Wer sich davon nicht ablenken lässt, hat mit SEHET DIE SÜNDER einen gruseligen mittelalterlichen Kriminalfall mit politischen Dimensionen und einem wahren Kern.

Warum man das ursprüngliche, aufwändig gestaltete rote Cover mit Prägung und Drucklack zugunsten des beigefarbenen Designs verworfen hat, wäre interessant zu wissen. Die beigefarbene Gestaltung ähnelt ein wenig dem Cover von Liv Winterbergs Bestseller VOM ANDEREN ENDE DER WELT. Vielleicht wollte man da einen Wiederkennungswert schaffen.

Die Autorin
Liv Winterberg, 1971 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Sie arbeitet für Film und Fernsehen als Rechercheurin. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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