Jürgen Seibold: Lindner und die Tageslosung – Ein Baden-Württemberg-Krimi

Jürgen Seibold: Lindner und die Tageslosung, Tübingen 2013, Silberburg-Verlag, ISBN 978-3-8425-1245-0, Softcover, 238 Seiten, Format: 18,8 x 12 x 2,2 cm, EUR 9,90.

„Wir haben – außer der Toten im Boller Kurpark – drei Mordopfer, deren Tod möglicherweise miteinander zusammenhängt. Alle Leichen waren ähnlich inszeniert wie die Frau im Kurpark. (…) Was die Opfer an sich aber miteinander gemeinsam haben, ist mir bisher noch nicht ganz klar.“ (Seite 54/55)

Im Kurpark von Bad Boll wird eine ältere Frau ermordet aufgefunden. Der Mörder hat sie hingelegt wie das Opfer einer Kreuzigung: mit ausgebreiteten Armen und überkreuzten Fußknöcheln. Die Leiche ist ausgeblutet. Durch einen Schnitt in der Halsschlagader ist das Blut in eine eigens dafür ausgehobene Grube geflossen. Und zu allem Überfluss hat man der Frau ein Kalenderblatt mit der Tageslosung einer pietistischen Glaubensgemeinschaft auf die Stirn getackert.

Hans-Dieter Kortz vom Landeskriminalamt in Stuttgart verfügt, dass sein Mitarbeiter, Kriminalhauptkommissar Stefan Lindner, in die Ermittlungen der Göppinger Kripo eingebunden werden soll. Damit sorgt er für einigen Unmut. Denn Lindner, nach einem traumatischen Erlebnis psychisch angeschlagen und eigentlich noch außer Dienst gestellt, hat ein Problem mit KHK Wolfgang Roeder von der Kripo Göppingen. Und der mit ihm. Was genau zwischen den beiden ehemals besten Kumpels vorgefallen ist, wissen wir nicht. Ein Punkt ist sicher, dass Roeder dem LKA-Beamten Lindner dessen Karriere neidet. Doch auf solche Kindereien hat LKA-Mann Kortz keine Lust: Roeder berichtet an Lindner, ob es den beiden passt oder nicht.

Der Mordfall muss aufgeklärt werden. Es steht zu befürchten, dass die Frau weder das erste noch das letzte Opfer war. In den letzten beiden Jahren hat es in der näheren Umgebung gleich drei ungeklärte Mordfälle gegeben, bei der die Leiche ähnlich inszeniert war wie die Tote im Kurpark. Darüber hinaus hatten die Opfer nichts gemeinsam. Das heißt, im Moment wissen sie noch nicht einmal, wer die Tote überhaupt ist.

Stefan Lindner studiert die Akten, befragt die zuständigen Kollegen und glaubt, in den Wohn- und Tatorten sowie in den Tattagen Bezüge zum Pietismus zu erkennen. Es handelt sich immer um Wohn- oder Wirkungsorte sowie wichtige Jahrestage bedeutender Pietisten. Allerdings kann man sich alle möglichen Zusammenhänge einbilden, wenn man sich einmal auf eine Idee eingeschossen hat. Ohne die angetackerten Kalenderblätter wäre niemand auf diese Theorie gekommen. Die Opfer selber hatten mit Religion nicht viel am Hut. Das mit der Tageslosung könnte auch ein Ablenkungsmanöver sein.

Die Zinzendorferinnen, aus deren Kalender die Tagslosungsblätter stammen, entpuppen sich als eine winzige Splittergruppe feministischer Glaubensschwestern – mit wasserdichten Alibis. Die DNS-Spuren an den Mordopfern gehören zu verschiedenen Männern und Frauen. Sind es mehrere Täter? Handeln sie im Auftrag der Zinzendorferinnen oder sollen den Frauen die Taten nur angehängt werden? Weder die Gemeinschaft der Herrnhuter noch die radikal-konservative Gruppierung „Republik Gottes“ ist auf die provozierend auftretende Feministinnengruppe gut zu sprechen.

Das LKA und die Soko „Wandelhalle“ der Göppinger Kripo ermitteln, begleitet von Kompetenzstreitigkeiten und fiesen Sticheleien, weil KHK Stefan Lindner seit neuestem mit der Kripo-Kollegin Maria Treidler liiert ist. Auch Maria Treidler stichelt, weil der 40-jährige Lindner nach seinem Zusammenbruch wieder auf dem Bauernhof seiner Mutter untergekrochen ist und in seinem alten Kinderzimmer wohnt. Vielleicht hat er auch nie eine eigene Wohnung gehabt. Wer den vorangegangen Band LINDNER UND DAS APFELMÄNNCHEN gelesen hat, wird sicher sagen können, ob der hypochondrische Lindner nun ein Krisenopfer oder ein Muttersöhnchen ist.

„Mutter“ ist überhaupt ein gutes Stichwort. In vielen Krimis aus aller Welt wird der Leser gnadenlos vom überpräsenten Privatgedöns der Ermittler genervt. In diesem Roman hier ist die Polizistenmutter die heimliche Heldin. Eine kernige Bäuerin, die seit dem Tod ihres Mannes ihren Hof alleine bewirtschaftet, Traktor fährt, Motoren repariert, Stumpen (Zigarren) raucht und gern mal mit ihren „Boller Mädla“ einen trinken geht. Und die ein wunderschönes Schwäbisch schwätzt.

Ruth Lindner redet nicht lang drumrum, sie sagt auch ihrem erwachsenen Sohn ohne Umschweife, was Sache ist. Einen Freund hat sie auch: den Apfelbauer Eugen Rösler. Auch wenn sich Kommissar Linder überhaupt nicht vorstellen mag, dass seine Mutter und der Eugen …

Aktuell macht sich Lindner große Sorgen um seine Mutter. Nach einem Haushaltsunfall hat er sie trotz energischen Widerstands zum Hausarzt schleifen können, wo sie seit 20 Jahren nicht mehr war. Und der scheint bei seinen Untersuchungen tatsächlich etwas Schlimmes gefunden zu haben. Jedenfalls wirkt die lebenslustige Bäuerin auf einmal sehr deprimiert. Sie behauptet jedoch hartnäckig, es gehe ihr gut.

Die Frage, was der knitzen Mama fehlt, beschäftigt den Leser womöglich mehr als die Suche nach dem Serientäter. Die Ermittlungen sind nämlich ein wenig anstrengend, weil man eine Menge Informationen über den Pietismus geliefert bekommt. Da verwandelt sich der Leser ruckzuck in einen quengeligen Schüler: „Muss ich mir das alles merken? Ist das wichtig?“ Und warum bekommen wir haarklein eine Beziehungstat aus dem Jahr 2009 erklärt, wenn die doch mit der aktuellen Mordserie gar nichts zu tun hat?

Erst als sich herausstellt, dass die Tote aus dem Kurpark zum Bekanntenkreis von Ruth und Eugen gehörte, wächst das Interesse des Lesers an den Ermittlungen. Und beim dramatischen Showdown ist man dann ganz dabei. Die Aufklärung des Falls ist jedoch nicht vollständig nachvollziehbar. „Ah ja!“, sagt sich der Leser im Idealfall. „Nur so kann es gewesen sein!“ Hier denkt er vielleicht eher: „Ach so? Na ja, okay.“

Am Schluss wissen wir auf jeden Fall, was mit Mama Ruth los ist. Wenn sie und der Eugen weiterhin eine wichtige Rolle im Leben von KHK Lindner spielen, lese ich gerne auch den nächsten Band.

Der Autor
Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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