Als ich 13 Jahre alt war, musste mein Vater für sechs Wochen zur Kur. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Elternteil längere Zeit abwesend war und die die Idee ganz furchtbar. Es war in den 70-er Jahren und wir hatten noch kein Telefon im Haus. Wenn wir also mit meinem Vater in Bad Neuenahr kommunizieren wollten, mussten wir Briefe schreiben. Sogar meine Mutter tat dies, obwohl das Schriftliche nicht ihre Stärke war. Sie hatte immer Angst, sie würde sich blamieren, weil ihr Deutsch nicht fehlerfrei war.
Jetzt fand sie Kur auch noch im Herbst statt, wo ohnehin alle Leute aus Lichtmangel antriebslos und deprimiert sind. Ich habe die Anfangszeit ohne meinen Papa als fürchterlich düster in Erinnerung. Ich sehe mich noch als trauriges Etwas bei Sauwetter an der Straßenbahnhaltestelle stehen und zur Schule fahren. Zu der Zeit hab ich erstmals eine Countdown-Liste angelegt und die Tage bis zu seiner Rückkehr einzeln abgehakt.
Nach ein paar Wochen trat etwas ganz Seltsames ein: Wir daheim gewöhnten an den Zustand. Mit meiner Mutter war es zum Beispiel viel einfacher, sich auf ein Fernsehprogramm zu einigen. Ihr war es im Prinzip wurscht, was lief, weil sie sich ohnehin auf ihre Handarbeit konzentrierte. Und auch sonst nahmen wir manches nicht so genau wie unser korrekter Papa.
Als die sechs Wochen vorüber waren und ich mit meinem Cousin zum Bahnhof fuhr, um meinen Vater abzuholen, hatte ich trotz aller Wiedersehensfreude ein bisschen Angst um meine neu gewonnene Freiheit. Wie würde es sein, wenn er wieder das Kommando übernahm … auch über das Fernsehprogramm?
Auch das hat sich wieder eingependelt. Es war nur Frage weniger Wochen und alles war wie gehabt. So oder so: wir gewöhnten und jeweils an das Neue und konnten uns gar nicht mehr vorstellen, dass es ja anders gewesen war.
Dieser sonderbare Effekt scheint jetzt erneut wirksam zu werden. Nach vier Wochen habe ich das Gefühl, ich hätte schon immer alleine gewirtschaftet. Es ist, als hätte ich mir das gemeinsame Leben mit meinem Gerhard nur eingebildet, angelesen oder erzählt bekommen. Es ist ganz unwirklich und weit weg. Hingen nicht seine Fotos an der Wand und läge nicht noch sein Kram überall herum, würde ich mich ernsthaft fragen, ob er je wirklich existiert hat.
Den Hubschrauberkram hat der Mann angeschleppt. Also hab ich mir seine Existenz nicht nur eingebildet.
Im Augenblick ist er für mich fast so weit weg wie die Geschichten aus meiner Kindheit. Ja, irgendwann mal war ich klein und habe mit meiner Herkunftsfamilie im Nachbardorf gewohnt. Das Haus war noch gelb gestrichen und nach der übernächsten Querstraße hörte die Zivilisation auf. Dahinter kamen nur noch Getreidefelder und Wald. Heute ist das alles zugebaut. Wie es früher war, kann man sich kaum mehr vorstellen und hat in der Tat Mühe, sich an Details zu erinnern. War der Laden um die Ecke nun ein REWE oder ein EDEKA? Und was genau war früher da, wo heute die Bibliothek steht?
So weit weg wie die Jugend. Das rechts ist nicht Maren Frank. Das bin ich mit Ende 20.
In diese staubige Ecke meines Gedächtnisses scheint mein Gehirn die Erinnerungen an die letzten 36 Jahre verkramt zu haben. Zu „es war einmal und hat heute keine Bedeutung mehr“. Das tut zwar weniger weh als wenn ich immer noch meine, er müsste jeden Moment zur Tür hereinkommen, aber ein wenig unnatürlich kommt mir diese Reaktion auch vor. Vielleicht ist das ein Schutzmechanismus des Verstandes, damit man nicht völlig durchdreht.
Es braucht allerdings nicht viel, um Erinnerung und Schmerz wieder an die Oberfläche zu spülen. Nein, es hilft mir nicht, wenn man mir aufzählt, was wir beide alles falsch gemacht haben, was man an ihm noch nie gemocht hat und wer alles sonst noch der Meinung gewesen sei, dass wir ohnehin nie zusammengepasst hätten …