Beth Kephart: Mein Ein und Alles (Jugendbuch 14 – 17 Jahre)

Beth Kephart: Mein Ein und Alles, OT: You are my only“, aus dem Englischen von Cornelia Stoll, München 2013, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-65008-3, Klappenbroschur, 257 Seiten, Format: 21,1 x 13,6 x 2,7 cm, Buch: EUR 12,95 (D), EUR 13,40 (A), Kindle Edition: EUR 10,99.

Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag

„Die Kisten sind fest mit Klebeband verschnürt, für den Transport. Sie enthalten Mutters Privatsachen, wie sie immer sagt. ‚Das geht dich nichts an‘, sagt sie, und ich habe das respektiert, habe sie von einem Haus ins nächste getragen, habe nie das Klebeband aufgerissen, habe nie Fragen gestellt. Doch oben im Haus gibt es kein Wunder und auch nicht in dem Lokal, in dem Mutter arbeitet. Das einzige Wunder, das ich mir vorstellen kann, wäre, wenn sie den Bösen gehen ließe.“ (Seite 162)

Wie die beiden Handlungsstränge, die abwechselnd erzählt werden, zusammenhängen, ist dem Leser relativ schnell klar. Man fragt sich aber gespannt, wann bei den Beteiligten der Groschen fallen wird.

Emmy
1990, irgendwo in den USA:
Nach dem Tod ihrer Eltern heiratet die 19-jährige Emmy ihren College-Freund Peter Rane, einen Mann, der sie nicht gut behandelt und vor dem sie Angst hat. Dann geschieht das Unfassbare: Nur für einen Moment geht Emmy ins Haus und lässt ihr vier Monate altes Baby unbeaufsichtigt im Garten. Als sie wiederkommt, ist das Kind verschwunden. Entführt! Peter tobt und gibt ihr die Schuld. Die Polizei stellt misstrauische Fragen. Emmy ist überfordert und rennt bei Nacht und Nebel davon, um ihr Kind selbst zu suchen. Sie kehrt nie wieder nach Hause zurück.

Hilfe bekommt sie von dem einsamen Eisenbahn-Fan Arlen, dem sie unterwegs begegnet. Doch nach einem Unfall und einem Nervenzusammenbruch landet sie für längere Zeit in der Psychiatrie. Zusammen mit ihrer Zimmergenossin Autumn träumt sie davon, aus der Klinik zu fliehen und ihr Kind zu finden. Aber so funktioniert das nicht …

Sophie
2014: Ganz in der Nähe des alten Krankenhauses
beziehen die gehbehinderte Kassiererin Cheryl Marks (51) und ihre 14-jährige Tochter ein baufälliges Holzhaus. Rund ein Dutzend Mal sind sie seit Sophies Geburt umgezogen, immer auf der Flucht vor „dem Bösen“. Für Cheryl ist das eine reale Person, für Sophie nur ein abstrakter Begriff. Manchmal fragt sie sich, ob „der Böse“ vielleicht nur im Kopf ihrer Mutter existiert.

Sophie geht nicht zur Schule. Ihre Mutter unterrichtet sie zu Hause – nach einem reichlich skurrilen Lehrplan. Ohne Begleitung darf das Mädchen nie das Haus verlassen. Auch wenn Sophie die strengen Regeln ihrer Mutter nicht versteht, hält sie sich daran. Sie kennt es ja nicht anders. Doch damit ist es vorbei, als Sophie feststellt, dass sie aus dem Dachfenster heraus Kontakt zu den Nachbarn aufnehmen kann. Den Dachboden kann die Mutter mit ihren kaputten Knien nicht erreichen, deshalb kriegt sie davon nichts mit.

Nebenan wohnt der gleichaltrige Joey Rudd, der Sophie das Ballspielen beibringen will, sowie seine Tanten: die warmherzige Cloris und deren Freundin/Lebensgefährtin, die schwer kranke Helen. Außerdem sind da noch der ungebärdige Hund Harvey und die Katze Minxy. Wenn Cheryl im Imbiss an der Kasse sitzt, huscht Sophie ins Nachbarhaus. Diese heimlichen Besuche machen ihr bewusst, dass das Leben nicht so ungesund eng, streng und trist sein muss wie bei ihr daheim. Und dass alle Menschen eine Lebensgeschichte haben.

Was für eine Geschichte steckt wohl hinter dem oft irrationalen und grausamen Verhalten von Cheryl Marks? Was bringt sie dazu, ihre Tochter gefangen zu halten? Vor wem oder was genau läuft sie weg? Da von ihrer Mutter keine ehrliche Antwort zu erwarten ist, begeht Sophie den schwersten Regelverstoß überhaupt: Sie durchwühlt im Keller die Kisten mit Cheryls persönlichen Unterlagen. Das hat dramatische Folgen …

Ein Stück vom Glück
Die Personen in diesem Roman sind allesamt vom Schicksal gezeichnet. Je verzweifelter sie versuchen, dem Leben eine Kompensation für erlebtes Unrecht abzuringen, desto mehr Unglück bringen sie über sich und andere.

Helen und Cloris gehen einen anderen Weg. Sie hadern nicht, sie nehmen das Leben wie’s kommt. „Man muss jeden Tag nutzen“, meint die todkranke Künstlerin. Und Cloris hat die Erkenntnis gewonnen: „Glück und Unglück liegen oft nah beieinander“. Sophie und Joey sehen das bereits ähnlich pragmatisch.

Jetzt wäre es noch interessant gewesen, zu sehen, wie Sophies und Emmys Leben weitergeht. Aber das ist nicht mehr Bestandteil der Geschichte und bleibt unserer Phantasie überlassen. Und der lieben Cheryl hätte Sophie sicher auch noch ein paar wichtige Dinge zu sagen gehabt. Auch das müssen wir uns dazu denken . Das ist ein bisschen schade.

„Kepharts Prosa ist Lyrik in Bewegung – und schafft Schönheit in alltäglichen Momenten“, wird die amerikanische Zeitschrift FAMILY CIRCLE auf dem Buchumschlag zitiert. In der Tat: Emmy und Sophie haben eine poetische Ader. Vor allem Sophie wird dichterisches Talent bescheinigt. Beide beobachten sehr genau und nehmen ihre Umwelt stark über Gerüche wahr. Kein Wunder, dass sie prosaischeren Naturen etwas sonderbar vorkommen. Emmy erklärt das so: „Meine Art zu riechen liegt in der Familie. Auch die Art wie ich sehe und wie ich Dinge erkläre: das war schon bei Mama so (…)“ (Seite 31).

Um wieviel glücklicher wäre wohl das Leben der beiden Frauen verlaufen, wenn sie es mit Menschen hätten verbringen dürfen, die ihre Besonderheit zu schätzen gewusst hätten? Stattdessen waren beide die meiste Zeit von Banausen umgeben, die sie für verrückt hielten. Aber vielleicht ist noch was zu retten. Wie sagt Tante Helen? „Man muss jeden Tag nutzen“. Sophie und Emmy sind jung. Sie haben noch die Chance auf viele, viele Tage in Gesellschaft von Menschen, die sie so wertschätzen, wie sie sind. Auch wenn sie bereits Jahre verloren haben.

Die Sprache ist ein Gedicht, die Story spannend wie ein Thriller, und irgendwie schafft es die Autorin, dass man selbst für die größten Sünder noch Mitgefühl aufbringt. Sie wollen doch alle nur ein kleines Stück vom Glück haben – und erwischen dabei das eines anderen.

Und wenn nicht auf dem Buchumschlag stünde, dass das ein Jugendbuch ist – man käme nicht von sich aus auf die Idee.

Die Autorin
Beth Kephart studierte an der University of Pennsylvania Literatur und unterrichtet dort heute Creative Writing. Sie veröffentlichte Lyrik, Sachbücher und Jugendromane, für die sie in den USA mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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