Dora Heldt: Wind aus West mit starken Böen – Roman

Dora Heldt: Wind aus West mit starken Böen, München 2014, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-26039-8, Klappenbroschur, 491 Seiten, Format: 3,5 x 3,8 x 21,1 cm, Buch: EUR 15,90 (D), EUR 16,40 (A), Kindle Edition: EUR 13,99. Auch als Hörbuch-Download und Audio-CD erhältlich.

Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag

„Ich rede nicht davon, dass du deine Miete und deine Krankenversicherung selbst bezahlen kannst.“ Marthas Tonfall war spöttisch. „Ich meine eine innere Unabhängigkeit. Die Kunst, sein Leben zu leben, ohne darüber nachzudenken, was andere darüber denken.“ (Seite 434)

Dank ihrer Hippie-Eltern Joe und Mia hatten die Johannsen-Schwestern eine bunte, chaotische und unberechenbare Kindheit auf Sylt. Die jüngere Schwester, Inken (38), hat damit kein Problem. Sie hat einfach in diesem Stil weitergewurstelt. Mit 17 hat sie die Schule abgebrochen, Schiffsmechanikerin gelernt und nach einigen … hm … Episoden eine Segelschule auf Sylt eröffnet.

Das Geld reicht bei ihr nie, und ohne die unentgeltliche Hilfe ihrer Rentner-Gang – Gertrud Schneider und den Brüdern Piet und Knut -käme Inken kaum zurecht. Sie helfen ihr im Haushalt, in der Segelschule und bei der Buchhaltung. Keiner der drei dienstbaren Geister hat eigene Kinder. Sie scheinen Inken als eine Art Ersatztochter angenommen zu haben. Mit ihrem Ex-Gatten, dem Dänen Jesper Madsen, pflegt sie seit 20 Jahren eine unkonventionelle on- und off-Beziehung. Und irgendwie ist sie mit diesem Durcheinander ganz zufrieden.

„In ihrer Erinnerung sprang Inken die Düne hinunter, sie hatte immer viel zu viel Schwung und sich fast jedes Mal überschlagen. Unten angekommen, hatte sie sich nur mal kurz geschüttelt, den Sand ausgespuckt und war wieder nach oben geklettert. Genauso lebte sie heute noch.“ (Seite 451)

Katharina Johannsen (48) dagegen hat frühestmöglich das Weite gesucht und sich auf dem Festland komplett neu erfunden.

In ihrer Kindheit hat sie es gehasst, Mama Mias knallbunte Kleiderkreationen tragen zu müssen. Viel lieber wäre sie herumgelaufen wie alle anderen, statt eine schrill gewandete Außenseiterin zu sein. Dass ihre Eltern es gar nicht erwarten konnten, endlich mit „der Brutpflege“ durch zu sein und nach Mallorca auswandern zu können, fand Katharina auch nicht so prickelnd. Die Höhe war, dass Joe und Mia die Haushaltsauflösung und die Abwicklung des Hauverkaufs den Töchtern überlassen hatten.

Die schmerzliche Trennung von ihrer Jugendliebe Hannes Gebauer hat Katharina dann den Rest gegeben. Damals hat sie sich geschworen: Nie wieder soll es (Gefühls-)Chaos und Unordnung in ihrem Leben geben! Sie möchte es kontrollierbar und verlässlich haben. Keine großen emotionalen Ausschläge nach oben und nach unten, lieber ein bisschen Langeweile. Und nie mehr würde sie ein bunter Vogel sein!

Seit 20 Jahren ist sie nicht mehr auf Sylt gewesen. Nach einer Karriere im Hotelgewerbe und einem Zwischenspiel beim Fernsehen arbeitet sie jetzt für ein Recherchebüro, lebt in Bremen und ist seit drei Jahren mit dem Lektor Jens Weise liiert. Mit ihrer Familie hat sie praktisch keinen Kontakt. Weder ihre Eltern noch ihre Schwester wissen zum Beispiel, dass Katharina in ihrer Münchener Zeit verheiratet war und geschieden ist.

Vor allem, was mit ihrer Vergangenheit zu tun hat, hält sie sich möglichst fern. Doch dann besteht der Bestseller-Autor Bastian de Jong darauf, dass sie als gebürtige Sylterin vor Ort die Recherchen für seinen nächsten Roman übernimmt. Diesen Auftrag kann sich das Büro nicht entgehen lassen, das sieht Katharina ein. Also fährt sie auf die Insel.

Ihr Vorsatz, den Kontakt mit ihrer Familie auf ein Minimum zu beschränken, wird durch unglückliche Umstände torpediert. Sie muss vorübergehend bei ihrer Schwester im Gästezimmer unterschlüpfen. Und auch bei ihrer Arbeit im Inselarchiv kann sie ihrer eigenen Geschichte nicht entfliehen, denn dort arbeitet ihre rüstige ehemalige Lehrerin Dr. Martha Jendrysiacz mit. Die müsste jetzt über 70 sein, kann sich aber noch gut an Katharina erinnern. Mit ihrer Meinung hält sie nicht hinter dem Berg: „Du warst (…) ein besonderes Mädchen, aber du hast geglaubt, du wärst falsch. Nur weil du sein wolltest wie die anderen. Das fand ich schade. (…) Du hast das Kind von früher komplett wegkontrolliert. Dabei war es ein besonderes Kind.“ (Seite 482)

Katharina sei beruflich hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben, findet Martha. Sie habe sie immer als Schriftstellerin gesehen, nicht als Zuarbeiterin für andere Autoren. Und dass sie und Hannes Gebauer sich seit über 20 Jahren aus dem Weg gehen, das sei doch Unsinn. Wenn sie wie zivilisierte Menschen miteinander reden könnten, würden die damaligen Ereignisse vermutlich auch in die richtige Perspektive rücken.

Als die pensionierte Lehrerin ihre ehemaligen Schüler Katharina und Hannes zum Essen einlädt, ohne dass der eine Gast vorher vom anderen weiß, richtet sie damit ein größeres Chaos an als sie beabsichtigt hat. Aber auch das ist für Martha in Ordnung. Sollen doch alle kopfstehen! Dinge wie Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Spießigkeit und Langweile stehen ihrer Meinung nach ohnehin dem „richtigen Leben“ entgegen. Was einen nicht wundert, wenn man ihre eigene aufregende Lebensgeschichte kennt. Aber wie sehen das und verkraften das Katharina und die anderen, deren Wünsche und Pläne jetzt so gründlich durcheinandergewirbelt werden?

WIND AUS WEST … ist kein Schenkelklopfer wie Dora Heldts Papa-Heinz-Romane. Es passiert auch nichts atemberaubend Spannendes. Es ist ein leiser und ernster Roman über das Leben. Wie lebt man es „richtig“? Ist es besser, auf die Vernunft oder auf das Gefühl zu hören? Martha hat’s in ihrem langen Leben auf die knackige Formel gebracht: „Richtig ist, was sich richtig anfühlt“. Und am allerwenigsten sollte die Meinung fremder Leute eine Rolle spielen.

Nach und nach erfährt man die Lebens- und Liebesgeschichten der verschiedenen Haupt- und Nebenfiguren. Es ist sehr interessant und berührend, welche Entscheidungen sie getroffen haben und was daraus wurde. Okay, es ist vielleicht ein bisschen viel „wir kommen im mittleren Alter wieder mit unserer Jugendliebe zusammen“, aber die Geschichten von Inken, Gertrud und insbesondere die von Martha sind wunderschön. Martha und ihren Maler könnte man sich sehr gut als Heldin eines eigenen Romans vorstellen.

Eine tragische Figur ist Katharinas Auftraggeber, der Erfolgsautor Bastian de Jong. Sein Problem bringt der einfache Seemann Piet geradezu philosophisch auf den Punkt: „Alt werden ist nicht so einfach, wie immer alle denken. Das muss man wollen.“ (Seite 462)

Am Schicksal der Romanfiguren nimmt man Anteil wie an dem von Freunden und Bekannten. Und man hofft für jeden, dass er die besten Entscheidungen treffen und glücklich werden möge. Fieslinge, denen man das Gegenteil wünscht, gibt es hier keine. Wie im wahren Leben ist der eine oder andere selbst sein größter Feind. Das sieht Martha ganz richtig. Ein paar ihrer klugen Gedanken werden einem noch lange im Gedächtnis bleiben.

Die Autorin
Dora Heldt, bzw. Bärbel Schmidt, wie sie im wahren Leben heißt, ist gelernte Buchhändlerin und seit 1992 als Verlagsvertreterin unterwegs. Auch wenn sie heute in Hamburg lebt, ist die 1961 auf Sylt geborene Autorin nach wie vor ein großer Fan der Nordseeinsel – und dort hat auch ihre Großmutter gelebt, deren Namen sie als Pseudonym gewählt hat. Mit ihren kurzweiligen Familienromanen rund um Christine und Papa Heinz und ihren spritzig-unterhaltenden Frauenromanen hat sie sämtliche Bestsellerlisten erobert, die Bücher sind zudem fürs Fernsehen verfilmt und in etliche Sprachen übersetzt worden.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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