Eintrag ins Klassenbuch

Seit kurzem hält das Gleitzeitsystem meines Arbeitgebers eine Liste mit „Normabweichungen“ vor. Minutengenau wird festgehalten, wann man eine „Kernzeitverletzung“ begangen hat, indem man später kam, früher wegging, länger als 10 Stunden am Tag gearbeitet hat oder während des Arbeitstags mal für eine private Erledigung ausstempeln musste. Und das Gleitzeitsystem vergisst nichts. Diese Sünden wider die Arbeitszeitordnung werden da stehen, bis ich in Rente gehe oder sonstwie aus der Firma ausscheide.

Kernzeit

Natürlich gibt es die Arbeitszeitregeln nicht zum Spaß. Die Firma will das so, und bei der Vertragsunterzeichnung hat man unterschrieben, dass man diese Vorschriften einhält. Sie möchten eben nicht, dass hier jeder kommt und geht wie es ihm passt. Kann man ja verstehen.

Ich gehe davon aus, dass die Verstöße gegen die Arbeitszeitordnung schon immer dokumentiert wurden. Nur hat man sie noch nie zuvor dem Mitarbeiter in Form eines stets länger werdenden Sündenregisters präsentiert. Wenn ich das so lese, fühle ich mich immer wie zu meinen Schulzeiten: Eintrag ins Klassenbuch wegen irgendwelchen ungebührlichen Verhaltens. Bei drei Einträgen gibt’s dann einen blauen Brief an die Eltern. Nur dass ich Mitte 50 und damit längst erwachsen bin und eigentlich auch nicht mehr erzogen werden möchte. Ich habe meine Termine auch nicht zum Vergnügen.

Ich tu mein Möglichstes, immer pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und so wenig wie möglich zu fehlen. Mit dem Erwachsensein kommen aber vielfältige Verpflichtungen, die nicht immer mit den vom Arbeitgeber gewünschten Anwesenheitszeiten kompatibel sind. Selbst wenn ich einen Arzttermin um 8 Uhr ergattere, ist nicht gewährleistet, dass ich um 9 Uhr an meinem Schreibtisch sitze. Und wenn ich einen Termin um 17 Uhr bekomme, muss ich auch vor Kernzeitende gehen, um rechtzeitig in der Praxis zu sein. Die Ärzte habe ich nämlich an meinem Wohnort, nicht an meinem Arbeitsort. Wenn ich krank bin, bin ich in der Regel daheim, weil es mir schlecht geht. Da will ich nicht erst eine Stunde mit der Bahn zum Doktor in die Stadt gurken müssen.

Handwerker, die die Hausverwaltung schickt, nehmen auch keine Rücksicht auf die Belange berufstätiger Kunden. Können sie auch gar nicht, da würden sie ja nie fertig. Da klebt eben ein Zettel an der Haustür: „Firma XY kommt am X. Mai zwischen 12:30 Uhr 15:00 Uhr.“ Und wenn man in dem Zeitraum nicht daheim ist und sie nochmal kommen müssen, kostet das extra.

Beim Blick auf diese Gleitzeit-Sündenliste hab ich immer das Gefühl, ich sollte sie mir vorsichtshalber abspeichern und wie zu Schulzeiten eine „Entschuldigung“ dazuschreiben.

# 1: Da habe ich meinen Vater zum Arzt begleitet
# 2: Wohneigentümerversammlung
# 3: Termin beim Immobiliengutachter
# 4: Termin beim Rechtsanwalt
# 5: Handwerker (Montage der Rauchwarnmelder)
# 6: Zahnarzt
# 7: Steuerberater

Irgendwann kommt vielleicht jemand daher, zeigt mit spitzen Finger auf meine Abwesenheitszeiten und fordert nachträglich ein Alibi. (Dass ich meinen Abteilungskollegen jeweils rechtzeitig Bescheid gegeben habe, wann ich warum nicht im Hause sein kann, wird da nicht zählen. Diese Angabe taucht ja in der Liste nicht auf.)

Ich habe außerdem den Verdacht, dass andere Menschen und Institutionen, zumindest im Geiste, ein vergleichbares Dossier über mich haben. Die Familie führt womöglich Buch darüber, bei welchen Gelegenheiten ich nicht bei meinem Vater war und erst geholt werden musste, wenn er Hilfe brauchte weil ich, pfui Teufel aber auch, arbeiten war.

Die Bank führt in jedem Fall Buch darüber, wann ich zu den Vertreterversammlungen gegangen bin. Und da habe ich leider häufiger gefehlt als teilgenommen, seit sie die Versammlungstermine in eine meiner beruflichen Hochstressphasen gelegt haben. Ich sage zwar immer fristgerecht ab, aber es steht sicher trotzdem irgendwo vermerkt:

# 1: war krank
# 2 – 4: berufliche Verpflichtungen
# 5: hat ihren Vater im Krankenhaus besucht

An der Immobilienfront wird man bestimmt ebenfalls vermerken:

# 1: War nicht bei der Eigentümerversammlung wg. Krankheit
# 2: War nicht bei der Eigentümerversammlung wg. Geschäftsreise
# 3: Hat die Rollläden nicht sofort und die Wohnungstür noch immer nicht richten lassen
# 4: Lässt sich Zeit mit dem Rasenmähen. Ist immer nur daheim, wenn es schon Nacht ist oder regnet.
# 5: Und die nervige Mieterin mit dem nervigen Hund ist auch immer noch da!

Fakt ist, dass ich nicht überall gleichzeitig sein kann. Wenn ich mich um A kümmere, begehe ich eine Pflichtverletzung gegenüber B und C, auch wenn ich mir noch so sehr die Hacken abrenne. Und so komme ich aus dem Stress, dem Schämen und dem Rechtfertigen überhaupt nicht mehr heraus. Da kann ich mir noch so große Mühe geben, allen und allem gerecht zu werden: Es lauert trotzdem hinter jeder Ecke einer mit einem vorwurfsvollen Gesicht und einer endlos langen Liste und macht mir ein schlechtes Gewissen. Und niemand will hören, dass sein Sch*** eben nicht der einzige ist, um den ich mich kümmern muss.

Ich vermute mal, dass ich nicht die einzige bin, die dieses Phänomen kennt …

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