Vorausschauend denken

Der Bus fährt eine Haltestelle an. Nur die vordere Bustür öffnet sich, alle Fahrgäste müssen vorne beim Fahrer einsteigen und ihre Fahrkarten vorweisen. Als erstes steigt ein etwa zehnjähriges Mädchen ein, sagt etwas zum Fahrer, macht einen Schritt ins Wageninnere und bleibt mitten im Gang vor dem Gerät zur Fahrkartenentwertung stehen.

Sie setzt den Schulranzen und eine Sporttasche ab und legt beides auf den Boden. Dann zieht sie den Anorak aus. Alles einhändig. Mit der rechten Hand hält sie das Smartphone fest umklammert. Das kann man wohl nicht für ein paar Sekunden in eine Tasche stecken. Vielleicht kommt sie auch einfach nicht auf die Idee, dass ihre Aktion zweihändig möglicherweise schneller ginge. Es fällt ihr ja auch nicht ein, einen Schritt beiseite zu gehen und in die leere (!) Sitzreihe links von ihr zu treten.

Hinter dem Mädchen bildet sich ein Stau


Dann wurstelt sie – ebenfalls einhändig – an ihrer Kleidung. Schicht für Schicht wird sortiert und hochgekrempelt, bis schließlich unterm Unterhemd ein Brustbeutel zum Vorschein kommt. Darin befindet sich eine Mehrfartenkarte, die sie mühselig und langsam mit der linken Hand dort rausfriemelt.

Derweil stauen sich hinter dem Schulkind die neu zugestiegenen Fahrgäste oder versuchen, um sie herum nach hinten durchzugehen, wobei sie das Mädchen anrempeln und mehr oder weniger elegant über die auf dem Boden abgelegten Schultaschen klettern.

Der Bus fährt an, das Kind fällt um und heult, rappelt sich wieder auf und steckt schließlich in Zeitlupe die Mehrfahrtenkarte in den Schlitz des Entwertungsgeräts. Geschafft! Na, wer sagt’s denn?

Gut, das Mädchen war noch jung und von der Situation womöglich überfordert. Dass es Chaos gibt, wenn sie mitten im Weg stehen bleibt und dort umständlich ihren Kram sortiert, hat sie vermutlich gar nicht gemerkt. Es wäre deutlich geschmeidiger gewesen, wenn sie die Fahrkarte schon vor dem Einsteigen parat gehabt hätte. Da man sich bei Eis und Schnee nicht so gerne draußen an der Bushaltestelle bis aufs Unterhemd entblättern möchte, war’s vielleicht nicht ganz so clever, den Brustbeutel mit der Mehrfartenkarte direkt auf der Haut zu tragen.

Wie hypnotisiert saß ich da und habe ihr beim Herumkruschteln zugeschaut. Ich war zu weit weg, als dass ich meine Hilfe hätte anbieten können. („Soll ich dir was halten? Das Handy vielleicht?“ – „Willste nicht die Taschen auf den Sitz stellen, damit die anderen Leute vorbeigehen können?“)

„Wenn ich dies mache, wird jenes passieren“


Vielleicht war das Mädchen nur ausnahmsweise so verpeilt, weil es aus einem konkreten Anlass mit den Gedanken woanders war. Aber manche Leute scheinen tatsächlich nicht nach dem Muster denken zu können: „Wenn ich dies mache, wird jenes passieren.“ Das sind dann die, die sich in fröhlich tratschenden Gruppen direkt vor dem Supermarkteingang versammeln oder punktgenau vor der Einkaufswagen-Sammelstelle rumstehen, so dass niemand einen Wagen holen oder abgeben kann. Oder die Spezialisten, die träumend in der Schlange vor der Wursttheke stehen, fast zu Tode erschrecken, wenn die Verkäuferin sie anspricht und dann erst lange darüber nachsinnen müssen, was sie eigentlich kaufen wollen. „Wer bin ich? Wo bin ich? Und was will ich hier? Äh … Wurst!“ Oder auch die Helden, die unmittelbar nach Verlassen der Rolltreppe stehen bleiben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo denn die Menschen hin sollen, die hinter ihnen auf der Treppe angefahren kommen …

Foto: (c) S. Hofschlaeger / pixelio.de
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Foto: (c) S. Hofschlaeger / www.pixelio.de

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