Joan Weng: Feine Leute – Kriminalroman, Berlin 2016, Aufbau-Verlag, ISBN 978-3-7466-3175-2, Softcover, 333 Seiten, Format: 11,6 x 2,7 x 19,1 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 7,99.

Berlin 1925: Hat Bernice Straumann tatsächlich ihren Liebhaber, den Gutsverwalter Max Bayer, dazu angestiftet, ihren vermögenden Ehemann Gottlieb zu erschießen? Für „die Leute“ ist der Fall glasklar. Dich Kriminalkommissar Paul Genzer, 28, hat so seine Zweifel. Der Ermordete hatte Krebs im Endstadium. Wenn es seiner Frau um sein Geld oder ihre Freiheit gegangen wäre, hätte sie ihn nicht umbringen lassen müssen. Beides hätte sie in Kürze so oder so bekommen.
Wer außer Straumanns Frau hat von seinem Tod profitiert? Bei seinen Geschäften war der Mann offenbar nicht zimperlich. Der eine oder andere, der mit ihm zu tun gehabt hat, dürfte ihm die Pest an den Hals gewünscht haben, wenn nicht Schlimmeres.
Carl bringt die High Society zum Reden
Jetzt sollte man bei den feinen Leuten, mit den Straumann Umgang hatte, mal Mäuschen spielen und unauffällig Informationen sammeln können. Doch zu diesen Kreisen hat der vierschrötige Arbeitersohn Genzer keinen Zugang. Jetzt schlägt die Stunde seines Geliebten, des Schauspielers Carl von Bäumers, 22, des „schönsten Manns der Ufa“. Zu gerne würde er seinem „Paulken“ ein paar Türen öffen oder am besten gleich den ganzen Fall für ihn lösen. Denn zurzeit steckt die Beziehung der beiden Männer wegen Pauls Eifersucht und Carls Zickigkeit in einer Krise und Carl würde sich nur zu gerne mit seinem Freund versöhnen.
Also zieht Carl los mit seinen guten Kontakten, seinem Charme und Schauspieltalent sowie seiner Erfahrung als Kino-Kommissar und bringt die High Society zum Reden. Was er da erfährt, ist zum Teil ganz schön starker Tobak.
Ein Gattenmord? Oder ein anderes Motiv?
Als es im Umfeld Gottlieb Straumanns zu weiteren Attentaten und Todesfällen kommt, wird offensichtlich, dass sein Tod kein schnöder Gattenmord war. Da muss etwas ganz anderes dahinter stecken. Der zu Unrecht verdächtigten Witwe nutzt das allerdings nichts mehr: Sie ist unter den Todesopfern.
Was wirklich geschehen ist, erfahren wir ganz am Ende, wenn Carl und der Kommissar ihre Erkenntnisse zusammentragen und in Agatha-Christie-Manier ihre Schlussfolgerungen ziehen.
Das Motiv und die Tatausführung – das hat was! Desgleichen der Schauplatz im Berlin der 1920er- Jahre und die Idee, ein homosexuelles Paar als Hauptfiguren zu wählen. Damals gab es ja noch den Unzuchtparagraphen und vor allem, wenn, wie hier, beide Partner in der Öffentlichkeit standen, war eine solche Beziehung hochriskant.
Tolle Ideen – aber ein bisschen viel Personal
Was den Krimi allerdings ein wenig anstrengend macht, ist die Vielzahl von Personen. Knapp 30 Figuren wuseln da herum, und jedes Kapitel wird aus der Sicht einer anderen Person geschildert. Das kann man machen, wenn man ein umfangreiches Epos hat wie KRIEG UND FRIEDEN oder DAS LIED VON EIS UND FEUER, bei dem die Leser Zeit haben, die Personen kennenzulernen. Da genügt dann die Nennung eines Namens und man weiß: ‚Ach, das sind die! Die gehören so und so zusammen, haben diese und jene Probleme, und in der letzten Szene haben sie gerade dies und das gemacht.‘
In einem Buch von 330 Seiten Umfang kann man jede Person nur schlaglichtartig beleuchten und es besteht die Gefahr, dass der Leser den Faden verliert und immer mal wieder nachschlagen muss, wer wer ist. ‚Ein Chemiestudent, der in einem Hotel arbeitet? Moment, den hatten wir doch schon mal!‘ – blätter, blätter, blätter – ‚Ach ja, da! Aber für die Handlung ist er nicht weiter wichtig? Ach so.‘
Sowas bremst ein wenig das Tempo und die Spannung. Vor allem, dass die Leute auch noch in den verschiedensten Beziehungen zueinander stehen, macht die Sache so komplex: A ist der Lover von B und C, der Vater von D, Geschäftspartner von E, verschwägert mit F und taucht deshalb in den verschiedensten Handlungssträngen auf. Und so ähnlich ist das irgendwie mit allen.
Mir ist bis jetzt nicht ganz klar, wie der arme Pastor in diesen Schlammassel hineingeraten konnte. Er war doch vollkommen harm- und ahnungslos. Nur aus familiären Gründen?
Ein perfider Masterplan
Irgendwann habe ich aufgegeben, das komplizierte Beziehungsgeflecht durchschauen zu wollen. Wie und wann Gottlieb Straumann zu Tode gekommen ist, habe ich begriffen und der perfide Masterplan dahinter hat mir gut gefallen. Welch schrecklichs Schicksal die diversen Nebenfiguren ereilt hat, war mir ab einem bestimmten Punkt egal.
Ich gebe zu, dass ich mit allzu personalintensiven Romanen grundsätzlich meine Schwierigkeiten habe. Diese Art der Unübersichtlichkeit habe ich schon den von mir sehr verehrten Ben Aaronovitch angekreidet. So gesehen befindet sich die Autorin da in bester Gesellschaft. Sollte es einen weiteren Band mit Paul Genzer und Carl von Bäumer geben, würde ich es gerne noch einmal mit den beide Helden versuchen.
Die Autorin
Joan Weng, geboren 1984 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte und promoviert aktuell über das Frauenbild in der Literatur der Weimarer Republik. Für ihre Kurzprosa wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Hattinger Literaturförderpreis, dem Wiener Werkstattpreis, dem Goldstaubpreis der Autorinnen Vereinigung e. V. sowie zahlreichen Stipendien. Seit 2013 leitet sie die Redaktion von www.zweiundvierziger.de, dem Blog der 42er Autoren. Sie lebt mit ihrer Familie bei Tübingen. „Feine Leute“ ist ihr erster Roman.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http://www.boxmail.de