Annette Hohberg: Stellas Traum – Roman

Annette Hohberg: Stellas Traum – Roman, München 2016, Knaur Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 978-3-426-65336-4, 312 Seiten, Format: 13,5 x 2,7 x 19,3 cm, Buch: EUR 16,99, Kindle Edition: EUR 14,99.

Abbildung: (c) Knaur Verlag
Abbildung: (c) Knaur Verlag

„Stellas Traum“ ist der Titel einer Figurengruppe der Kieler Künstlerin Elisabetta Dürnstein. Es zeigt eine Frau, die zwei Männer an ihrer Seite hat. Die „echte“ Stella, Elisabettas Nichte, findet das Kunstwerk im Nachlass ihrer Tante und fühlt sich durchschaut. Dieses Werk beschreibt ihre ganze Jugend – und das Grundproblem ihres Lebens.

Kein Privatleben, keine Vergangenheit


Stella ist jetzt in den Fünfzigern und erfolgreiche Ärztin in München. Ihr Chef und ihre Kollegen beschreiben sie als außerordentlich engagiert und fleißig, was ein anderer Ausdruck dafür ist, dass sie überhaupt kein Privatleben hat. Zu ihrer einzigen Verwandten, Tante Elisabetta, bei der sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen ist, hält sie nur losen Kontakt. Über ihr Leben vor ihrer Zeit in München spricht sie nie, ja sie denkt nicht einmal mehr daran. Sie hat die Vergangenheit vollkommen verdrängt und sich mit der vielen Arbeit betäubt.

Als sie jetzt zurück nach Kiel muss, um den Nachlass ihrer Tante zu regeln, kommen die Erinnerungen wieder hoch … an eine unbeschwerte Kindheit mit ihren zwei allerbesten Freunden. Den blonden, grüblerischen Paul und den dunkelhaarigen, draufgängerischen Tim kennt sie seit frühester Kindheit. Sie sind zusammen aufgewachsen, waren unzertrennlich und haben einander perfekt ergänzt. Stella war von klein auf darauf bedacht, ihre Zuneigung zwischen den beiden Jungs gleichmäßig zu verteilen, damit sich keiner zurückgesetzt fühlt.

Stella will sich nicht entscheiden


Normalerweise greift in so einem Fall der so genannte „Westermarck-Effekt“, auch „Kibbuz-Effekt“ genannt. Das heißt, dass Kinder, die miteinander aufwachsen, geschwisterliche Gefühle füreinander entwickeln und einander nicht als potenzielle Partner betrachten. Doch der Effekt scheint hier einen Aussetzer gehabt zu haben. Als die Kids 16 sind und Elisabetta nach einem spektakulären Zusammenbruch für einzige Zeit in die Klinik muss, zieht Tim fürs erste bei Stella ein. Sie kommen sich näher … vorübergehend. Nach dem Abitur werden Stella und Paul ein Paar, doch die Anziehung zwischen Tim und ihr ist immer noch stark.

Am liebsten würde Stella sich gar nicht zwischen den beiden entscheiden müssen. Doch Tante Elisabettas Hippe-Sprüche von der Liebe, die ein Kind der Freiheit sei, von einer Ménage-à-trois und den Konventionen, die man über Bord werfen müsse, sind nur Theorie. Die Emotionen machen ihr eigenes Ding. „Eifersucht, Eitelkeit, Wut, Einsamkeitsgefühle, Verlassensängste, Besitzansprüche … lauter ziemlich dumme Spielverderber, die sich nur zu gern mit den Konventionen verbünden, um einen dann zurückzujagen ins Kästchen, aus dem man eigentlich rauswollte.“ (Seite 87) Elisabetta hat das längst kapiert. Die drei Jugendfreunde werden diese Erfahrung erst noch machen müssen – auf die ganz harte Tour.

Ihr WG-Experiment scheitert überaus dramatisch, und die Freunde zerstreuen sich in alle Winde. Stella geht nach München und „vergisst“ die Vergangenheit, einer der Jungs bleibt in der Heimat und betäubt seine Probleme mit Alkohol, und wo der dritte abgeblieben ist, das wusste nur Tante Elisabetta.

Eine schmerzhafte Spurensuche beginnt


Weil die Verdrängung der Vergangenheit in der alten Umgebung sowieso nicht funktioniert, will Stella nun das tun, was ihr ihr Chef ihr geraten hat: Sie will sich ihrem Schmerz stellen, um ihn endlich verarbeiten zu können. Doch dazu braucht sie die Freunde von damals. Stella begibt sich auf eine schmerzhafte Spurensuche …

Rein äußerlich passiert nicht viel: Eine Frau regelt die letzten Angelegenheiten einer Verwandten und spricht mit Menschen, die sie in ihrer Jugend kannte. Was die Geschichte so spannend macht, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, geschieht „innerlich“, in Stellas Erinnerungen. Man will unbedingt wissen, was die Freunde damals so aus der Bahn geworfen hat, dass sie ihr Leben danach nicht mehr auf die Reihe bekommen und 20 Jahre lang nicht miteinander gesprochen haben.

Und man kann nicht erwarten zu erfahren, was aus dem dritten im Bunde geworden ist. Wird Stella ihn finden? Und wie wird er reagieren, wenn sie ihn aufstöbert? Wie hat er die große Katastrophe von damals weggesteckt? Wird es zum längst überfälligen Wiedersehen der drei Freunde kommen? Und wird ihnen das helfen, die Vergangenheit zu verarbeiten statt sie zu verdrängen?

Was damals wirklich geschah …


Indem Stella sich ihren Erinnerungen stellt, erfahren auch wir, was damals geschah … nach und nach. Bei Erzählungen auf verschiedenen Zeitebenen gibt es sonst gern mal Orientierungsprobleme – hier nicht. Man weiß stets zweifelsfrei, ob man sich in der Gegenwart oder in einer Episode aus der Vergangenheit befindet. Was heute passiert, wird im Präsens geschildert, was damals war, steht im Präteritum/Imperfekt.

Ohne dass die Autorin jedes Detail beschreiben muss, entsteht vor den Augen des Lesers ein farbiges und lebendiges Bild einer wilden und freien Kindheit und Jugend. Und auch Elisabettas Häuschen sieht man sehr deutlich vor sich. Annette Hohberg fängt wunderbar die entsprechenden Stimmungen ein, und jeder Leser sieht sein ureigenes Bild. Ich kriege immer die Krise, wenn uns ein Autor haarklein vorschreiben will, was genau wir zu sehen haben: Links steht dies und rechts steht das … Wie man an diesem Roman gut sehen kann, ist das gar nicht nötig.

Liebe und Freundschaft, Leben und Tod


Kluge und erfahrene Menschen, die ihre Lebenskrisen mit mehr oder weniger großen Beschädigungen überstanden haben, machen sich in diesem Roman bemerkenswerte Gedanken über Liebe und Freundschaft, das Leben und den Tod. Das ist mitreißend und wunderschön zu lesen und gibt einem bei aller Tragik doch ein bisschen Hoffnung. Für die drei Hauptpersonen wünschte man sich nur, dass sie früher die Kraft und den Mut aufgebracht hätten, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. So haben sie zwanzig Jahre ihres Lebens in einer Art emotionalen Vorhölle zugebracht und dabei eine Menge wertvoller Zeit vergeudet.

STELLAS TRAUM ist ein ganz besonderes Leseerlebnis. Im Klappentext des Buchs steht: „Auf die Frage, woher sie die Inspirationen für ihre Romane hole, sagte [Annette Hohberg] mal: ‚Ich lebe!‘.“ Und genau das wird hier auf jeder Seite spürbar.

Die Autorin
Annette Hohberg hat Linguistik, Literaturwissenschaften und Soziologie studiert. Heute arbeitet sie als Journalistin. Die Schriftstellerin lebt in München, fühlt sich aber überall auf der Welt zu Hause. Was immer dabei sein muss: gute Bücher und gute Musik.

 

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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