Mat Fournier: Bauen wie die Biene, fliegen wie der Vogel: Wenn die Natur die Wissenschaft inspiriert

Mat Fournier: Bauen wie die Biene, fliegen wie der Vogel: Wenn die Natur die Wissenschaft inspiriert, OT: Quand la nature inspire la science. Aus dem Französischen von Susanne Schmidt-Wussow, Bern 2016, Haupt-Verlag, ISBN 978-3-258-07987-5, Hardcover, 160 Seiten, mit Fotos von Yannick Fourié, Format: 23,1 x 1,7 x 34 cm, EUR 39,90 (D), EUR 41,10 (A).

Abbildung: (c) Haupt-Verlag

Wenn man fremde Ideen adaptiert, dann am besten solche, die ihre Funktionsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt haben und von Experten stammen, die viel von ihrem Fach verstehen. Und wer hätte mehr Erfahrung in stabilem und recycelbaren Bauen, in effizienter Fortbewegung, im Wahrnehmen, Energiesparen, Tarnen und Überleben unter widrigen Bedingungen als Mutter Natur? Deshalb haben sich von alters her wissbegierige Menschen durch intensive Beobachtung von Tieren und Pflanzen zu Innovationen anregen lassen.

Die Natur nachahmen: Biomimetik und Bionik


Es entstand die Biomimetik. Das ist „die Imitation des Lebendigen, die Nachbildung natürlicher Vorgänge und Strukturen zur Schaffung neuer oder Verbesserung bereits bestehender Technologien.“ (Seite 9). Wenn Maschinen Menschen oder Tiere imitieren, nennt man das Bionik. Dieser Begriff „wurde Anfang der 1960er-Jahre auf einer Konferenz in Dayton in den USA geprägt, auf der sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt versammelten.“ (Seite 12). Jack Steele, ein Forscher und Offizier der US-amerikanischen Armee, definierte die Bionik als „die Wissenschaft von den Systemen, die in ihrer Funktionalität natürliche Systeme kopieren oder spezifische Eigenschaften der natürlichen Systeme aufweisen oder ihnen entsprechen.“ (Seite 12)

Die Begriffe sind relativ neu, der Vorgang selbst aber nicht. Ob sich die Inuit wirklich die Form ihrer Iglus von den Höhlen der Eisbären abgeguckt haben, ob die Lehmwespen in den Wüsten Nordamerikas den Indianern gezeigt haben, wie man Behausungen aus Lehmziegeln baut, ob die Nester der ganz gewöhnlichen Wespen für die Papierherstellung aus Holz Pate standen oder ein Blatthornkäfer, der eine Dungkugel von A nach B gerollt hat, die Menschen zur Erfindung des Rades inspirierte, können wir heute nicht mit Sicherheit sagen. Denkbar wäre es.

Vorbilder aus der Natur


In vielen Fällen ist aber sehr genau überliefert, dass sich Erfinder, Ingenieure, Architekten und Wissenschaftler sowie zahlreiche andere Menschen Tiere und Pflanzen zum Vorbild für ihre Arbeit genommen haben. 67 Beispiele aus verschiedenen Lebensbereichen präsentiert dieses Buch.

Ich habe nicht herausgefunden, wonach die Beiträge in dem Band sortiert sind. Pro Doppelseite geht es jedenfalls um eine Tier- oder Pflanzenart. Das Buch ist sehr liebevoll und aufwändig ausgestattet: Auf der linken Seite gibt es bebilderte Informationen über das Lebewesen und darüber, wie sich die Menschen seine speziellen Eigenschaften zu Nutze machen. Auf der rechten Seite ist ein ganzseitiges Foto eines Museumspräparats der jeweiligen Spezies abgebildet sowie eine Skizze, wie sie ein Wissenschaftler zu dem Thema gemacht haben könnte.

Foto: E. Nebel / Haupt-Verlag

Gut: Das Buch ist in Zusammenarbeit mit dem naturhistorischen Museum in Toulouse und dem Herbarium des Instituts für Botanik der Universität Montpellier entstanden, aber manchmal wäre das Foto eines lebenden Exemplars aufschlussreicher. Bei der Abbildung von Hammerhai, Riesenseerose oder Bärtierchen erkennt man als Laie zum Beispiel gar nichts. Das könnte Gott-weiß-was sein. Und manche Präparate sind eher gruselig als informativ. Es sind eben konservierte Kadaver. Hochinteressant ist dieser Streifzug durch die Biomimetik aber auf jeden Fall.

Stärker als Stahl, flexibler als Seide


Dass Bienenwaben materialsparend gebaut sind, hat man schon immer vermutet, tatsächlich aber erst 1999 beweisen können. Ob Pflasterarbeiten, Lagersysteme oder Materialien in Leichtbauweise – die Bienenwabenstruktur mit dem Sechseck als Grundelement wird schon seit Jahrhunderten kopiert. Noch nicht ganz erreicht hat man die Perfektion der Spinnenfäden. Die sind flexibler als Seide und widerstandsfähiger als Stahl oder Kevlar. Für so ein Material gäbe es vielfältige Verwendungsmöglichkeiten: Taue, optische Fasern, Nahtmaterial für Chirurgen und vieles andere mehr.

Die Auswüchse (Tuberkeln) auf den Buckelwalflossen ermöglichen dem Tier beim Schwimmen eine beträchtliche Energieersparnis. Nach ihrem Vorbild haben Ingenieure Rotoren von Windkraftanlagen konstruiert, die besonders effizient und geräuscharm sind. Die Eigenschaften der Eulenflügel wurden bei der Konstruktion eines japanischen Hochgeschwindigkeitszugs eingesetzt und machen ihn besonders leise.

Fliegen wie ein Anden-Kondor


Für den alten Traum vom Fliegen haben sich die Mensch vieles von der Natur abgeschaut: Die Flugstabilität bei den Stockenten, den Gleitflug beim Weißstorch und beim Andenkondor, die Proportionen bei der Taube und tatsächlich auch beim Thunfisch. Auch die Flügelfrucht des Ahorns und die Samen der Zanonie wurden genau untersucht. Nur die Fledermausflugzeuge von Clement Ader sahen zwar toll aus, hatten aber keine Chance, je vom Boden abzuheben.

Die Sonnensegel von Raumstationen entfalten sich nach dem Vorbild von Hainbuchenblättern. Die Bewegung einer Raupe inspirierte die Erfindung eines Miniaturmotors. Die Große Pilgermuschel stand Modell fürs Wellblech und damit für die Leichtbauweise. Die Nebelnetze, mit denen man in Chile Wasser sammelt, funktionieren nach dem Vorbild des Stinklorbeers und der Waldfrosch, der in Kanada und Alaska heimisch ist, macht keinen Winterschlaf, sondern lässt sich einfrieren. Das „Froschschutzmittel“, das er im Blut hat, wäre interessant zum Beispiel für die Konservierung von Organen.

Der Crystal Palace auf der Londoner Weltausstellung 1851 ist der Blattstruktur der Amazonas-Riesenseerose nachempfunden. Der menschliche Oberschenkelknochen diente dem Ingenieur Karl Culmann als Vorbild für einen Ladekran. Diese Arbeit wiederum inspiriert den Konstrukteur des Eifelturms. Belastbarer als Stahl ist die Schale der Seeohren, einer Meeresschnecke. Das wäre nicht nur was für schusssichere Westen! Noch im Versuchsstadium ist ein Tarn-Gel nach Art des Tintenfischs, der die Farbe seiner Umgebung annehmen kann. Ein Entomopter – schon allein das Wort ist klasse! – ist ein kleiner Flugroboter, der auf den Bewegungen eines Schwärmers (Falters) basiert und bei der Erforschung des Mars eingesetzt werden soll.

Die verborgenen Talente der Tiere und Pflanzen


Es ist unglaublich, welche verborgenen „Talente“ unsere Tiere und Pflanzen haben und auf welche Weise deren Nachahmung unser Leben verändert. Und noch verändern könnte, denn es gibt noch so vieles zu entdecken und nachzubauen! Bei einer Textseite pro Spezies kann jedes Thema natürlich nur kurz gestreift werden. Wer ganz genau wissen will, wie ein bestimmtes Verfahren funktioniert, wird auf eigene Faust recherchieren müssen. Aber als Überblick darüber, was wir uns von der Natur schon alles abgeschaut haben und was wir noch lernen können, ist das überaus geeignet.

Die Autorin
Mat Fournier, geb. 1972 in Aix-en-Provence, studierte Literaturwissenschaften und war dann als freie Journalistin tätig. Heute lebt und arbeitet sie in den USA.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

http://www.boxmail.de

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