Susanne Goga: Nachts am Askanischen Platz. Kriminalroman

Susanne Goga: Nachts am Askanischen Platz. Kriminalroman. Der sechste Fall für Leo Wechsler, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-21713-2, Softcover, 318 Seiten, Format: 12,1 x 2,5 x 19,1 cm, Buch: EUR 10,95 (D), EUR 11,30 (A), Kindle Edition: EUR 8,99.

Abbildung (c) dtv

„Erleben Sie das Grauen mitten in Berlin. Die Faszination der Folter. Der Reiz des Ruchlosen. Abgründe aus alter Zeit, Renaissance und Gegenwart. Unser bekanntes Ensemble bringt Stücke auf die Bühne, die Sie in eine Welt jenseits des Vorstellbaren versetzen. Bei uns gibt es keine Tabus. Nichts ist verboten, alles wird gezeigt. (Seite 85)

Es gibt langlebige Krimiserien, bei denen sich irgendwann ein Ermüdungseffekt einstellt – und es gibt Susanne Gogas Leo-Wechsler-Reihe, die im Berlin der 1920er-Jahre spielt und von Band zu Band immer noch ein bisschen besser wird.

Historischer Roman mit Mordfall


Wie macht die Autorin das? Das erklärt sie uns im Nachwort selbst: „Wie immer habe ich in diesem Roman versucht, neue Milieus und Winkel der historischen Metropole Berlin zu erforschen. Diesmal war es die Welt des Sensationstheaters, der deutschen Gefangenen in Russland, der russischen Flüchtlinge in Berlin und der ostjüdischen Bewohner in der ehemaligen Spandauer Vorstadt.“ (Seite 314) Und so ist auch dieser „Leo“ ein sorgfältig recherchierter historischer Roman geworden, in dem aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen ein Mord geschieht, den Oberkommissar Wechsler und sein Team nun aufklären soll.

Weil Leo Wechsler (40) nicht nur Polizist, sondern auch Mensch ist, erleben wir ihn gelegentlich als besorgten Familienvater. Die Beziehung zu seiner zweiten Frau, der klugen und umtriebigen Buchhändlerin Clara ist liebevoll. Sie kommt gut mit seinen beiden Kindern aus erster Ehe zurecht. Die ehrgeizige und naturwissenschaftlich interessierte Marie (11) hat ihre volle Unterstützung. Sorgen bereitet ihr Stiefsohn Georg (14), der offenbar in zweifelhafte Gesellschaft geraten ist. Schneller als der beruflich stark eingespannte Leo begreift Clara, was los ist. Doch das Problem kann sie nicht im Alleingang lösen.

Ein Toter auf dem Schulgelände


Berlin, Januar 1928: Oberkommissar Leo Wechsler ist viel zu sehr mit seinem aktuellen Fall beschäftigt, als dass er sich um seine familiären Angelegenheiten kümmern könnte, auch wenn er spürt, dass zuhause derzeit nicht alles rund läuft.

Ein ärmlich gekleideter Mann ist erwürgt im Geräteschuppen des Askanischen Gymnasiums gefunden worden. Der Hausmeister, der ihn entdeckt hat, ist völlig durch den Wind. Er hat den Mann noch nie zuvor gesehen und kann sich nicht erklären, wie der in seinen Schuppen gekommen ist. Auch die Lehrer und Schüler kennen den Toten angeblich nicht. Allerdings benehmen sich der schmächtige Quartaner Heinz Baumgarten und der großspurige Unterprimaner Werner Rath so, als hätten sie etwas zu verbergen. Nur was?

Auf dem angrenzenden Grundstück residiert das „Cabaret des Bösen“, ein Hinterhof-Theater, das gruselige Szenen zeigt. Theaterdirektor Louis Lemasque und sein Ensemble präsentieren hier eine „Horrorshow“ vom Feinsten. Im Hof des Theaters hat tatsächlich vor ein paar Tagen eine junge Russin, die ähnlich abgerissen gekleidet war wie der Tote, nach ihrem Mann Fjodor gesucht. Das ist die einzige Spur, die Leo und seine Leute bislang haben.

Das Cabaret des Bösen


Den ermordeten jungen Mann will auch am Theater niemand gekannt haben. Aber wer, wenn nicht Theaterleute, können ihren Mitmenschen etwas vormachen? Vor allem dem ebenso charismatischen wie aalglatten Chef der Truppe traut Leo nicht über den Weg. Der heißt doch nicht wirklich Louis Lemasque, oder? Das wird ein Künstlername sein, eine Anspielung auf sein durch eine Kriegsverletzung entstelltes Gesicht und darauf, dass er sein Handwerk in Paris am Théâtre du Grand Guignol gelernt hat. Tatsächlich heißt er Carl-Theodor Immendorf – ein Mann aus gutem Haus, der sein Erbe in dieses Theater investiert hat.

Leos Kollege Jakob Sonnenschein sucht derweil nach der jungen Russin. Hilfsvereine und Anlaufstellen für russische Juden gibt es eine ganze Reihe. Möglicherweise hat die junge Frau dort Unterstützung gesucht. Vielleicht erinnert man sich ja an sie. Und vielleicht war sie in Begleitung des späteren Mordopfers. Mit einer Phantomzeichnung der Frau und einem Foto des Toten macht Jakob sich auf den Weg ins Scheunenviertel. Dort kennt er sich aus, dort stammt er her – und dort findet er auch Jelena. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in Galizien und ist mit ihrem Lebensgefährten Fjodor nach Berlin gekommen. Er ist der Mann aus dem Geräteschuppen.

Ein ungeheuerlicher Verdacht


Was Jelena über Fjodor und den Grund ihrer Reise erzählt, klingt zunächst ziemlich bizarr. Erst nach und nach ergibt ihre Geschichte Sinn und lässt Leo mehr denn je an der Aussage eines der Verdächtigen zweifeln. Er fühlt ihm nochmals auf den Zahn und entwickelt eine Theorie, die so ungeheuerlich ist, dass er nicht wagt, seinen Kollegen davon zu erzählen. Seine Recherchen führen ihn bis nach Stuttgart und auf die Schwäbische Alb – und auf die Spur einer tragischen Geschichte, bei der es nur Verlierer gibt …

Hier ist die Epoche, in der der Krimi spielt, nicht nur ein bisschen exotisches Dekor, hier sind die Figuren und Schauplätze mitten ins Zeitgeschehen eingebettet. Der Plot funktioniert nur an diesem Ort und zu dieser Zeit und ist nicht beliebig auf andere Gegebenheiten übertragbar.

Helden mit starken Frauen


Die Leo-Wechsler-Reihe verfolge ich von Anfang an (2005). Die Personen machen im Lauf der Jahre eine Entwicklung durch – in Sachen komplizierter Vater-Sohn-Beziehung hatte die Autorin einen kompetenten Berater – und zu meiner Freude sind die Frauenfiguren stark, engagiert und selbstständig und lassen sich auch durch Fehler und Rückschläge nicht von ihren Zielen abbringen. Nicht immer zur Freude der Männer. Leo hat zum Glück kein Problem damit, dass Frau, Tochter und Schwester so eigenständig sind. Sein Kollege Robert Walther dagegen scheint nicht ganz so glücklich darüber zu sein, dass seine Jenny Karrierepläne verfolgt, in denen Begriffe wie „Kinder“ und „Familie“ nicht vorkommen. Er hat früher mit mehr Begeisterung über ihre beruflichen Ambitionen gesprochen.

Wie man sieht, wächst einem das Romanpersonal im Lauf der Jahre ans Herz. Ich hoffe ja, dass Leos Sohn noch einmal die Kurve kriegt und wieder vernünftig wird. Sorgen mache ich mir um Jankele – Jakob Sonnenschein – und dessen Familie, denn ihre Welt wird untergehen. Und ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, das mit anzusehen.

Die Autorin
Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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