Eshkol Nevo: Über uns. Roman

Eshkol Nevo: Über uns. Roman. OT: Shalosh komot, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28131-7, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 317 Seiten, Format: 14,1 x 2,7 x 21,6 cm, Buch: EUR 22,–, Kindle Edition: EUR 19,99.

Abbildung: (c) dtv Verlagsgesellschaft

„Die Enzyklopädie der Ideengeschichte schließlich half mir, mich zu entsinnen, dass nach Freuds Theorie in der ersten Etage alle unsere Bedürfnisse und Triebe angesiedelt sind, das Es. In der mittleren Etage wohnt das Ich, das versucht, zwischen unseren Begehrlichkeiten und der Realität zu vermitteln. Und in der obersten Etage wohnt seine Majestät, das Über-Ich, das uns immer wieder mit finsterer Miene zur Ordnung ruft (…)“ (Seite 237)

Der Aufbau des Romans ist ungewöhnlich: Drei Kapitel. Drei Protagonisten. Drei Monologe – gehalten von drei Personen, die im selben Haus bei Tel Aviv leben.

  • Der Innenarchitekt Arnon Levanoni aus der ersten Etage erzählt einem Vertrauten von seinen Eheproblemen. Was der Gesprächspartner erwidert, erfahren wir nur aus Arnons Reaktionen darauf.
  • Die Graphikdesignerin und zweifache Mutter Chani Doron aus der zweiten Etage droht den Verstand zu verlieren und schreibt ihrer in den USA lebenden Freundin einen langen Brief.
  • Die pensionierte Bezirksrichterin Dvorah Edelman aus der dritten Etage spricht ihrem verstorbenen Mann Nachrichten auf einen Anrufbeantworter. War es richtig, sich vom gemeinsamen Sohn loszusagen?

Ja, wenn’s der Autor schon selber sagt …: Die Probleme der drei Nachbarn spiegeln Sigmund Freuds Struktur- bzw. Instanzenmodell wider: Es, Ich und Über-Ich. Aber man muss kein Psychologe sein, um die Sorgen und Nöte von Arnon, Chani und Dvorah zu verstehen. Ich habe den Zusammenhang auch erst begriffen, nachdem mich der Autor praktisch mit der Nase drauf gestoßen hat.

Freud hin oder her – der Roman ist kein bisschen abgehoben oder belehrend. Die Helden sind einfach nur Menschen, die irgendwie versuchen, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen, was ihnen mehr schlecht als recht gelingt. Es kommen ihnen, wie uns allen, die eigenen Fehler und Schwächen dazwischen, das Schicksal und die eine oder andere zweifelhafte Entscheidung.

Erste Etage
Das Es existiert von Geburt an. Es ist der Sitz der Triebe, Bedürfnisse und Affekte. Die Vorgänge laufen unbewusst ab. Das Es will seine Bedürfnisse sofort befriedigt haben und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen.

Innenarchitekt Arnon Levanoni und seine Frau, die Rechtsanwältin Ayelet, haben zwei kleine Töchter. Die Jüngere hat gesundheitliche Probleme und beansprucht besonders viel Zeit und Aufmerksamkeit. Das ist Stress pur, obwohl die betagten Nachbarn, Ruth und Hermann Wolf, gern auf die Kinder aufpassen. Und natürlich kommt die Zweisamkeit des Paares zu kurz.

Wäre Arnon s*xuell nicht so unausgelastet, wäre er vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen, dass der leicht demente Hermann Wolf seine Tochter Ofri belästigt haben könnte. Eigentlich deutet gar nichts darauf hin, aber er bildet es sich ein und rastet aus. Das geht so weit, dass er den alten Herrn körperlich angreift. Jetzt hängt der Haussegen schief und Ayelet quartiert den wild gewordenen Gatten aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus. Was die Sache nur verschlimmert.

Die Ehefrau ist sauer, die Nachbarin baggert


Jetzt wittert nämlich Teenie-Nachbarin Carine Morgenluft und baggert Arnon nach allen Regeln der Kunst an. Und er, der Depp, lässt sich darauf ein. Ganz schlechte Idee! Denn als es mal nicht nach Carines Kopf geht, droht sie, alles seiner Frau zu erzählen. Und die hat ihm schon vor der Ehe klargemacht, dass sie für jeden erdenklichen Unfug Verständnis hat, aber nicht fürs Fremdgehen …

Dem Helden geht der Allerwerteste auf Grundeis. Petzt Carine nun oder petzt sie nicht? Die Auflösung folgt sehr viel später.

Zweite Etage
Das Ich bezeichnet in Freuds Modell jene Instanz, die dem bewussten Denken des Alltags, dem Selbstbewusstsein entspricht. Das Ich vermittelt zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und der sozialen Umwelt. Es stellt das Realitätsbewusstsein dar.

Chani war Graphik-Designerin in einer Werbeagentur, als sie den Geschäftsmann Assaf Doron geheiratet hat. Jetzt reist er beruflich in der Welt herum, während sie mit zwei Kleinkindern zu Hause sitzt und langsam durchdreht. Sie glaubt schon, dass die Schleiereulen in den Bäumen mit ihr und über sie reden. Entwickelt sie etwa die gleiche Psychose wie ihre Mutter, die schon seit über 10 Jahren in einer psychiatrischen Anstalt lebt?

In ihrer Not wendet sie sich an ihre alte Freundin Neta. Brieflich … um ihre Gedanken zu sortieren. Plötzlich steht Chanis Schwager Eviatar vor der Tür, auf der Flucht vor der Polizei. Soll sie ihm Unterschlupf gewähren, obwohl sie damit ihre Familie in Gefahr bringt? Und obwohl Assaf ausrasten würde, wenn er davon wüsste? Aber der ist ja wieder irgendwo im Ausland.

Ehebruch oder Einbildung?


Der Schwager darf für ein paar Tage bleiben. Die Kinder sind von ihm begeistert. Er kocht für sie, er spielt mit ihnen, er ist genau so, wie man sich einen Vater vorstellt – ganz anders als der distanzierte vielbeschäftigte Assaf. Auch Chani ist von Eviatar angetan. Es kommt zu einer der skurrilsten S*x-Szenen, die mir je untergekommen sind. Kein Wunder, dass Chani sich irgendwann fragt, ob Eviatar wirklich da war. Sie könnte ihn sich auch ausgedacht haben.

Ja, gute Frage: Wie hält es dieses „Ich“ mit dem Realitätsbezug?
Was wirklich geschehen ist, werden wir noch erfahren.

Als Leser fragt man sich die ganze Zeit, ob Chani einfach nur eine wehleidige Wachtel ist mit zu viel Zeit für Nabelschau oder ob sie tatsächlich psychische Probleme hat. Man ist geneigt, den Standpunkt ihres Mannes einzunehmen, den sie ihrer Freundin in einer langen Liste erläutert.

Dritte Etage
Im Über-Ich sind soziale Normen, Werte, Gehorsam, Moral und das Gewissen angesiedelt. Das alles wird durch Erziehung erworben und spiegelt die von außen an das Kind herangetragenen, verinnerlichten Werte der Gesellschaft, insbesondere der Eltern wider.
„Das Über-Ich stellt das Gewissen und die Moral des Menschen dar. Es kann mit einem Richter verglichen werden. “ (Quelle: www. http://flexikon.doccheck.com/de/Instanzenmodell)

Der Richter Michael Edelman ist gestorben. Seine Witwe und pensionierte Berufskollegin Dvorah will die Wohnung verkaufen und mistet schon mal aus. Als sie einen alten Anrufbeantworter findet, kommt sie auf die Idee, Nachrichten für ihren verstorbenen Mann draufzusprechen. Zu Lebzeiten wollte er immer über alles informiert sein, jetzt soll er erfahren, was sich in ihrem Leben alles ändert.

Sie engagiert sich wieder politisch und lernt dabei den Ex-Mossad-Mitarbeiter Avner Ashdot kennen. Ein attraktiver Mann in ihrem Alter, verwitwet wie sie – und auch er hat Probleme mit seinem erwachsenen Kind. Tochter Assiya will es einfach nicht gelingen, ihren Platz im Leben zu finden. Aber wenigstens spricht sie noch mit ihrem Vater. Dvorah hat seit Jahren nichts mehr von ihrem Sohn Adar gehört. Er, der als Kind immer etwas anderes zu wollen und zu brauchen schien, als sie ihm geben konnte, ist als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten und hat den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen.

Sie hätte nicht aufgeben dürfen. Sie hätte ihren Sohn suchen sollen. Aber Michael war dagegen.

Ein neuer Freund mit einem Plan


Dvorah fühlt sich zu ihrem neuen Bekannten hingezogen. Doch ein gewisses Misstrauen bleibt. Warum weiß er so viel mehr über sie als sie über ihn? Was hat er vor? Faule Tricks, so gibt er irgendwann zu, sind ihm während seines Berufslebens zur zweiten Natur geworden …

Diese dritte und letzte Geschichte ist herzzerreißend und berührend. Über die Helden in der ersten und zweiten Etage kann man sich aufregen und den Kopf schütteln. Mit Dvorah fühlt man mit. Und mit den Menschen um sie herum ebenfalls.

Die Figuren bleiben einem auch nach Ende der Lektüre noch eine Weile im Gedächtnis und man fragt sich, wie es wohl für sie weitergegangen ist. Ganz so, als handle es sich um reale Personen. Aber das passiert mir mit Eshkol Nevos Romanfiguren öfter.

Übersetzer Markus Lemke musste für uns LeserInnen im deutschsprachigen Raum den einen oder anderen Extra-Schlenker machen, damit wir verstehen, was der Autor meint. Die Stelle zum Beispiel, an der Dvorah anhand hebräischer Schriftzeichen die Körperhaltung von Menschen beschreibt, war sicher eine kleine Herausforderung.

ÜBER UNS ist keine Allerweltslektüre und sicher nicht jedermanns Geschmack. Mich hat das Buch beeindruckt.

Der Autor
Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana / Israel.

Der Übersetzer
Markus Lemke, geboren 1965 in Münster/Westfalen, Studium der Orientalischen Philologie und Islamwissenschaften in Bochum und Kairo. Lebt als freier Literaturübersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

http://www.boxmail.de

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