Elizabeth Jane Howard: Die Jahre der Leichtigkeit. Roman, OT: The Light Years, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Ursula Wulfekamp, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-14682-1, Klappenbroschur, Format: 13,5 x 4,3 x 21,1 cm, Buch: EUR 16,90 (D), EUR 17,40 (A), Kindle Edition: EUR 14,99.
Fünf Bände gibt’s über die britische Familie Cazalet. Es geht um vier Geschwister, drei Generationen und zwei Jahrzehnte. Dies hier ist Band 1. Es gibt auch eine BBC-Miniserie auf Grundlage dieser Bücher. Das macht der Sender ja nicht ohne Grund. Also muss etwas dran sein an der Reihe.
Also: Was passiert hier?
Öh … das Leben. Alles und nichts. Eine britische Großfamilie verbringt in den Jahren 1937 und 1938 jeweils die Sommerferien in Sussex bei den (Groß-)Eltern auf dem Land. Die Familienmitglieder gehen sehr unterschiedlich mit der Angst vorm Krieg um. Und sie tun das, was Familien eben so machen: Sie lieben und sie streiten sich.
Wer ist der Protagonist?
Es gibt nicht den oder die eine(n), sondern ca. 20 verschiedene. Jede Episode wird aus dem Blickwinkel einer anderen Person erzählt. Zu Wort kommen Familienangehörige, Freunde und Bedienstete.
Ist das spannend?
Sagen wir so: Ein klassischer Spannungsbogen ist nicht erkennbar. Es sind eher viele kleine Erhebungen. Also ungefähr so, wie wenn man mit einem Fahrzeug über ein Kopfsteinpflaster rumpelt. 😉
Was ist dann der Reiz an der Geschichte?
Wenn es keinen eindeutigen Helden gibt, mit dem man sich identifizieren kann und keinen packenden Plot, warum liest man das dann? Na ja: Warum hat man TV-Serien wie DAS HAUS AM EATON PLACE angeschaut? DIE JAHRE DER LEICHTIGKEIT bedient einen gewissen Voyeurismus. Man kann bei den Reichen und Schönen vergangener Zeiten und ihrem Personal heimlich über den Gartenzaun linsen – und auch durchs eine oder andere Schlüsselloch. Und riskiert man einen Blick in die Schlafzimmer, stellt man fest: So spießig und verklemmt, wie die immer tun, sind sie gar nicht. Jedenfalls nicht alle.
Davon abgesehen sind die Einstellungen der Leute noch sehr viktorianisch: Mädchen brauchen, von Haushaltsführung abgesehen, nicht viel zu lernen. Von Politik und Weltgeschehen müssen sie nichts wissen. Ihr einziges Ziel ist, sich gut zu verheiraten und Kinder zu bekommen. Und ganz wichtig: Anständige Frauen haben keinen Spaß am S*x! Dafür gehen die Kerle alle fremd. Tut’s einer nicht, wird er von seinen Kumpels mitleidig angeschaut, als würde etwas nicht mit ihm stimmen.
Die Familie Cazelet
Familienoberhaupt ist der vermögende Holzhändler William „Brig“ Cazalet. An seiner Seite ist seine Frau Kitty, die den Spitznamen „Duchy“ trägt. Das hat gute Gründe, liest sich aber trotzdem albern („Duschi“). Zu Beginn der Geschichte ist sie 70, er 77.
Zwei ihrer Söhne – der ernsthafte, kriegsversehrte Hugh und der leichtlebige Edward – sind in der Geschäftsführung des Familienunternehmens tätig. Rupert, der jüngste Sohn, ein erfolgloser Künstler, schlägt sich als Lehrer durchs Leben.
Alle drei Söhne haben Familie:
- Hugh ist glücklich mit Sybil verheiratet und hat mit ihr drei Kinder. Das ist die „normalste“ Familie im Buch.
- Schwerenöter Edward hat die Ballettänzerin Viola „Villy“ Rydal geheiratet. Also klassisches Ballett, nichts Anrüchiges. Leichten Herzens hat sie die Kunst für die Ehe aufgegeben, aber das inzwischen tausendfach bereut. Ein Leben, in dem man nichts Schöpferisches tut und nichts bewirkt, erscheint ihr sinnlos. Sie liebt ihren Mann und ihre drei Kinder, keine Frage, aber Haushaltsführung ist eben immer das gleiche. Sie versucht, den Mangel mit allerlei Hobbys zu kompensieren, aber es nützt nichts. Villy ist unterfordert.
- Rupert Cazalet ist verwitwet, hat zwei Kinder aus erster Ehe und ist jetzt mit der blutjungen, kapriziösen und egozentrischen Zoe verheiratet, die mit ihren Stiefkindern nicht auskommt. Zoe macht von allen Figuren in diesem Band die größte Veränderung durch. Eine himmelschreiende Dummheit, die sie aus lauter Langeweile begangen hat, zwingt sie dazu, erstmals über sich und ihr Leben nachzudenken. Und das Ergebnis gefällt ihr nicht …
- Und dann gibt’s noch die unverheiratete Schwester, Rachel Cazalet, 38. Sie kümmert sich um ihre Eltern und engagiert sich sozial. Mit ihrer Freundin Sid verbindet sie eine tiefe Liebe, aber das ganze bleibt, sehr zu Sids Kummer, rein platonisch. Kann es sein, dass Rachel so behütet und weltfremd aufgewachsen ist, dass sie nicht einmal weiß, dass es lesbische Beziehungen gibt?
Die Kinder
Es ist für den Leser nicht immer einfach, die Kinder den richtigen Eltern zuzuordnen. Man kann aber vorne im Buch im Stammbaum nachgucken. Ich zähle jetzt einfach querbeet auf, was so passiert:
- Die fast erwachsene Angela verliebt sich in einen verheirateten Mann.
- Teenager Louise pfeift auf das, was die Leute sagen. Mag sein, dass die Welt keine weiteren Schauspielerinnen braucht. Sie will aber eine werden. Was sie nicht will: die s*xuellen Avancen eines nahen Verwandten. Sie traut sich aber nicht, dessen Fehlverhalten zur Sprache zu bringen.
- Nora will ins Kloster gehen, Polly macht sich über alles furchtbar tiefschürfende Gedanken und deshalb auch mehr Sorgen als die anderen. Clary hat für eine Zwölfjährige eine erstaunliche Beobachtungsgabe und ein bewundernswertes schriftstellerisches Talent.
- Christopher ist Pazifist und will auf keinen Fall in den Krieg ziehen. Er kommt nicht mit seinem Vater aus und plant, klammheimlich zu verschwinden.
- Den Jungs graust es ausnahmslos vor der Rückkehr in ihre Internate, wo’s miese Mobber gibt und Regeln, von deren Existenz man erst erfährt, wenn man sie unwissentlich übertreten hat.
- Neville (7) stellt sich den Krieg als tolles Abenteuer vor. Lydia (6) kriegt mehr mit, als sie schon verstehen kann und äußert in aller Unschuld Dinge, die die anderen nicht mal zu denken wagen. Das ist manchmal zu köstlich!
Der Familienanhang
- Zum erweiterten Clan gehören noch Sids ewig unzufriedene Schwester Evie und Violets schöne Schwester Jessica die vier Kinder von einem schrecklichen Mann hat, der zum Glück die meiste Zeit abwesend ist.
- Eine interessante Figur ist die altjüngferliche Lehrerin Miss Eleanor Milliment. An ihrem Beispiel erfahren wir einiges über die Situation mittelloser allein stehender Frauen zu jener Zeit.
Kommt der Krieg oder kommt er nicht?
Im Sommer 1938 platzt das Anwesen von Brig und Duchy vor lauter Besuch aus allen Nähten. Die Männer der Familie gehen in London ihren Geschäften nach, die Frauen, Schwägerinnen, Schwestern, Schwiegermütter, Tanten … haben sich aus Angst vor Luftangriffen nach Sussex zurückgezogen.
Es ist interessant, die Ereignisse aus der Perspektive der Familie Cazalet zu sehen – mit dem Wissenstand von damals. Dass wir LeserInnen mehr wissen als die Personen im Roman, bringt Spannung in die Geschichte. Man möchte ihnen zurufen: „Glaub dies nicht, mach lieber das!“ Und das nicht nur im Hinblick auf die Vorbereitungen auf den Krieg. Eine der Damen wird von ihrem Mann nach Strich und Faden betrogen. Er hat sogar ein Kind mit einer anderen, ebenfalls verheirateten Frau. Den arg- und ahnungslosen Partnern möchte man am liebsten einen Tipp geben: „Jetzt ruf doch mal an oder fahr hin!“ Auch wenn einem nichts Menschliches fremd ist: Was dieses Paar da abzieht, ist unter aller Kanone!
Wie geht’s mit der Familie weiter?
Und jetzt fragt man sich als Leser, wie es mit den Cazalets und ihrem Anhang wohl weitergeht: Wie werden sie den Krieg überstehen? Kommt die betrogene Ehefrau irgendwann hinter die Geheimnisse ihres Mannes? Und was wird aus der Kinderschar und ihren Sorgen und Plänen?
Auch wenn keine atemberaubende Action zu erwarten ist: Ich werde den nächsten Band ebenfalls lesen. Und ich habe mir die BBC-Serie auf DVD bestellt.
Die Übersetzerin Ursula Wulfekamp hat sich die Arbeit gemacht, Anmerkungen zu Namen und Begriffen zu verfassen, die dem deutschen Leser der heutigen Zeit vermutlich nichts sagen werden. Leider ist im Text selbst kein Verweis auf diese hilfreichen Erläuterungen – kein Sternchen, keine Fußnote, nichts. Die Anmerkungen verstecken sich im Anhang auf den Seiten 557 – 560, wo man sie nur zufällig findet, nachdem man das Buch bereits ausgelesen hat. Und da kommt das dann ein bisschen spät.
Die Autorin
Elizabeth Jane Howard wurde am 26. März 1923 in London geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin und Modell, bevor sie 1950 ihren ersten Roman, ›The Beautiful Visit‹, schrieb, für den sie 1951 mit dem John Llewellyn Rhys Prize ausgezeichnet wurde. Es folgten weitere Romane, eine Sammlung von Kurzgeschichten und Slipstream (2002), ihre Autobiographie. Bis 1983 war sie verheiratet mit Kingsley Amis und damit die Stiefmutter von Martin Amis, der es ihr, wie er sagt, verdankt, dass er zum Schriftsteller wurde. Im Jahr 2000 verlieh Queen Elizabeth II. ihr den Verdienstorden Commander of the British Empire. Am 2. Januar 2014 verstarb Howard mit 90 Jahren in ihrem Haus in Suffolk.
Die Übersetzerin
Ursula Wulfekamp, 1955 im südenglischen Salisbury geboren, übersetzt seit über dreißig Jahren Belletristik und kunsthistorische Sachbücher aus dem Englischen. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u.a. Tracy Chevalier, Maeve Binchy und Joanne Harris. Ursula Wulfekamp lebt in Prien am Chiemsee.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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