Oliver Kern: Hirschhornharakiri, Kriminalroman

Oliver Kern: Hirschhornharakiri, Kriminalroman, Fellingers dritter Fall, München 2020, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-43981-8, Klappenbroschur, 336 Seiten, Format: 12,1 x 2,7 x 18.8 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Heyne

„Der Roßhauptner, der Maier, die Rosenbergerin. Wem von den dreien würde ich es am ehesten zutrauen? Bei welchen der drei Namen juckt es am stärksten? Leider kann ich das mit der dermatologischen Vorhersage nicht bewusst steuern, aber dass sich zwischen meinen Schulterblättern grad überhaupt nichts tut, frustriert mich jetzt definitiv.“ (Seite 138)

Der Lebensmittelkontrolleur – pardon: Hygieneinspektor – Berthold „Berti“ Fellinger, Mitte 40, trauert noch immer einer verpassten Chance nach: Wegen eines leichten körperlichen Handicaps hat man ihn seinerzeit bei der Polizei nicht genommen. Dabei liegt ihm das Ermitteln und Kombinieren im Blut. Er hat eine gute Beobachtungsgabe sowie einen Hang zu haarsträubenden Theorien, und sowie sich etwas Verdächtiges tut, juckt es ihn am Rücken.

Als Hygieneinspektor kontrolliert er routiniert und akribisch, ob’s die Gastwirt:innen in seinem Revier im Bayerischen Wald mit den Vorschriften auch genau genug nehmen. Wenn nicht, macht er ihnen den Laden zu, da kennt er nichts. Seine kriminalistischen Neigungen lebt er aus, indem er sich bei jeder Gelegenheit in die Angelegenheiten der örtlichen Polizei einmischt. Polizeihauptmeister Lechner lässt sich das zähneknirschend gefallen, weil er den Fellinger schon seit der gemeinsamen Schulzeit kennt, und weil es manchmal gar nicht so verkehrt ist, wenn einer ungewöhnliche Ideen hat.

Fellinger unter Mordverdacht

Doch dieses Mal ist alles anders. Als der Lechner den verkaterten Fellinger am Morgen nach dem Feuerwehrfest aus dem Bett klingelt, braucht er weder dessen Hilfe noch holt er ihn zum Frühschoppen ab. Er ist dienstlich hier und muss seinen alten Freund mit auf die Polizeiinspektion nehmen: Mordverdacht! Dumm nur, dass der Hygieneinspektor einen Filmriss hat und sich an den vorigen Abend kaum mehr erinnern kann. Er weiß nicht mal mehr, warum er sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, so dermaßen abgeschossen hat.

Den Rosenberger Horst soll er im Wald erstochen haben, mit dem Stück eines Hirschgeweihs. Darauf hat man seine Fingerabdrücke gefunden, und am Tatort lag auch noch seine blutbeschmierte Jacke. Mit sämtlichen Papieren darin.

Jetzt konnte der Fellinger den (Schürzen-)Jäger Rosenberger nicht besonders gut leiden, hatte aber kaum etwas mit ihm zu tun. Warum also hätte er ihn umbringen sollen? Er kann sich nicht mal erklären, warum er im Wald gewesen sein soll. Da zieht es ihn ja sonst nicht hin! Nur bruchstückhaft kehrt seine Erinnerung zurück.

Natürlich kann der Lechner Sepp den Fellinger nicht einfach laufen lassen, auch wenn er an dessen Unschuld glaubt. Er kann ihm nur ein bisschen Zeit verschaffen und versuchen, mit ihm zusammen den wahren Täter zu finden, ehe der Kollege von der Kripo eintrifft. 

Ermittlungen in eigener Sache

Unter dem Vorwand „Konfrontation mit dem Tatort“ geht’s los. Sie treffen auf eine mäßig trauernde Witwe, auf neugierige Nachbarinnen, einen rabiaten Wilderer, dubiose Geschäftsleute und einen eifersüchtigen Polizisten. Der Chef vom Hühnerhof kriegt eine Abreibung, ein Tierschützer mit politischen Ambitionen verschwindet spurlos und in welche merkwürdigen Geschäfte das Mordopfer verwickelt gewesen ist, das wüssten die beiden auch gern.

Hier läuft so manches, was nicht ganz sauber ist, aber es will sich einfach kein sinnvolles Gesamtbild ergeben! Wenn der Fellinger sich doch nur besser an den Abend erinnern könnte! Er weiß ja nicht mal mehr, wer die bezaubernde junge Dame im Dirndl war, mit der er an der Bar geschäkert hat, ehe ihm die Lichter ausgingen! Und warum seine Freundin, die Höllmüller Franzi, auf einmal so sauer auf ihn ist, würde ihn auch interessieren. Das Feuerwehrfest hat’s offenbar in sich gehabt.

Eine wilde Theorie

Nach und nach entwickelt Berti Fellinger eine Theorie, die alle diese Vorfälle sinnvoll miteinander verknüpft. Doch was er sich da zusammenspinnt, ist selbst dem Lechner Sepp zu abgefahren, und der ist diesbezüglich einiges gewöhnt. Aber aus dieser Nummer ist er raus! Jetzt bleibt dem Fellinger nichts anderes übrig, als sich abzusetzen und die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen …

In Folge gibt’s eine rasante Verfolgungsjagt mit einem geklauten Pedelec, ein paar überraschende Wendungen und einen dramatischen Showdown. Und auch Kleinganove „Texmäx“, auf den die Kenner:innen der Reihe dieses Mal langen warten müssen, hat wieder einen großen Auftritt.

Alte Bekannte

Es gibt Leserstimmen, die bemängeln, dass sich in Band 3 einiges aus den Vorgängerbänden wiederholt. Mir hat gerade das gefallen. In Band 1 war ich von den vielen Personen etwas überfordert, jetzt war’s wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten: Fellinger und sein Anhang, die Polizisten, die stets gut informierte Moser Erna, den massigen und etwas schmierigen Moosbrucker Toni von der Versicherung … 

Und, ja, mich erinnert die Reihe auch ein bisschen an Rita Falks Eberhofer-Krimis. Das Dorf und seine skurrilen Bewohner:innen spielen eine wichtige Rolle. Beide Helden erzählen in der Ich-Form und man hört ihren Dialekt durch. Sie sind jeweils in ihren Vierzigern und weder erwachsen noch politisch korrekt. Der Fellinger ist allerdings nicht so lethargisch wie der Falks Eberhofer Franz. Er hat mehr Meinung und Haltung. 

Spannend, witzig, kritisch

„Der Albin war einer, der immer bis zuletzt übrig geblieben ist, wenn es darum ging, im Schulsport Mannschaften zu bilden. Heutzutage würde man sagen, er war ein Nerd; damals haben wir ihn halt einen Grattler genannt – und das ist er auch noch heute.“ (Seite 63)

„Die Einrichtung ist kitschig und klischeehaft und entspricht der Vorstellung der Asiaten davon, wie wir Europäer uns den Fernen Osten vorstellen. Nämlich genau so! Das ist gewissermaßen ein Teufelskreis, bei dem anscheinend keiner gewillt ist, die beiderseitigen Irrtümer auszuräumen.“ (Seite 161)

Zum Schmunzeln sind Fellingers Beobachtungen und die Dialoge. Und natürlich seine Jobgeschichten! Ich sag nur: Spülmaschinenkontrolle im Reiterstüberl. Iiiiiieh! Ich fürchte nur, dass diese Anekdoten näher an der Wirklichkeit sind, als uns Leser:innen lieb ist. Beim Kriminalfall ist dann Schluss mit lustig. Der hat einen sehr realen und brutalen Hintergrund.

HIRSCHHORNHARAKIRI ist spannend, witzig und schlägt auch ein paar kritische Töne an. Leider fand ich die Aufklärung des Falles nicht restlos überzeugend. Mir ist schon klar, dass der Autor noch eine weitere Überraschung ins Spiel bringen wollte. Wenn sich die Romanhelden und die Leser:innen schon lange einig sind, wer der Mörder ist, setzt er noch einen drauf. Aber entweder habe ich eine der Figuren nicht verstanden, oder sie handelt deutlich „out of character“. Das fand ich ein bisschen schade. Es ist aber kein Grund, der Reihe abzuschwören. Sollte es einen vierten Band geben, bin ich gern wieder dabei. Schon allein um zu sehen, ob der Fellinger jetzt wenigstens ein kleines bisschen erwachsener wird.

Der Autor

Oliver Kern, 1968 in Esslingen am Neckar geboren, wuchs in der beschaulichen Idylle des Bayerischen Waldes auf. Heute lebt er mit seiner Familie in der Region Stuttgart, ist seiner alten Heimat aber nach wie vor sehr verbunden.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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