Olaf Nägele: Goettle und die Blutreiter. Kriminalroman (Pfarrer Goettle, Bd. 4), Meßkirch 2021, Gmeiner Verlag, ISBN 978-3-8392-2827-2, Softcover, 281 Seiten, Format: 12,1 x 2,5 x 20 cm, Buch: EUR 12,00 (D), EUR 12,40 (A), Kindle: EUR 9,99.
„Oh mein Gott, sehen Sie sich das an. Das ist das Ende.“ Er reichte Andreas Goettle das Telefon, der die Zeilen überflog. „I würd mol sage, Ihr Situatio war bisher mittelmäßig, Tendenz beschissen. Im Moment setzt sich die Tendenz durch.“ (Seite 214)
Eigentlich steige nicht gern mitten in einer Serie ein, aber hier konnte ich dem Thema nicht widerstehen. Seit ein alter Freund eigens für die Teilnahme am Blutritt in Weingarten reiten lernen musste (fragt nicht!), ist mir Europas größte Reiterprozession ein Begriff: Jeweils am Freitag nach Christi Himmelfahrt bekommt der Heilig-Blut-Reiter am Portal der Basilika die Reliquie überreicht. Begleitet von bis zu 2.500 Reitern in Frack und Zylinder und über hundert Musikkapellen reitet er durch die Stadt und spendet den Segen des Heiligen Blutes für Haus, Hof und Felder.
Vorm Blutritt: Die Reliquie ist weg!
Das ist ein Riesenereignis mit Ehrengästen und allem Pipapo. Da ist es natürlich eine Katastrophe, dass die wertvolle Reliquie acht Tage vor der Prozession aus der Basilika gestohlen wird, bevor Pfarrer Sebastian Seegmüller die Gelegenheit hatte, sie vom Altar in den Tresor zu räumen. Er fühlt sich schuldig, weil er ein paar Sekunden lang abgelenkt war und traut sich nicht zur Polizei. Wenn der Verlust der Reliquie allgemein bekannt wird, ist die gesamte Großveranstaltung gefährdet. Ohne Blutreliquie keine Prozession. Vor dem Skandal, der Schande und den Konsequenzen graut dem Pfarrer. Doch von allein wird sich das Artefakt nicht wieder anfinden. Er muss also was tun.
Verdächtige, die die traditionsreiche Prozession stören oder verhindern wollen, gibt es reichlich: Tierschützer, die den Pferden den Rummel ersparen und die Veranstaltung am liebsten abschaffen würden … eine Frauengruppe, die sich dagegen wehrt, dass nur Männer Blutreiter sein dürfen … eine g’spinnerte Sekte – und Zacharias Stuber, dessen Securityfirma erstmals den Auftrag, den Blutritt zu sichern, an einen Konkurrenten verloren hat. Stuber vermutet dahinter einen Racheakt des Vorsitzenden des Festausschusses und ist nicht gewillt, seine Niederlage hinzunehmen.
Pfarrer Goettle soll ermitteln
Pfarrer Seegmüller hat weder die Zeit noch Know-how, um all diesen Leuten auf den Zahn zu fühlen. Aber er kennt jemanden, der über beides verfügt: Andreas Goettle, der vom Dienst suspendierte Gemeindepfarrer von Biberach. Dieser lässt alles stehen und liegen, als von Seegmüllers Notlage hört, und fährt nach Weingarten. Auch wenn er dadurch die Anhörung beim Erzbischof versäumt, bei der es um seine drohende Amtsenthebung geht. Goettles Verfehlung? Nun, seinen Vorgesetzten passt es nicht, dass er sich als Biberachs Antwort auf Pater Brown versteht und wegen seiner Detektivspielerei die Gemeindearbeit vernachlässigt.
Ganz allein muss Goettle den Fall zum Glück nicht lösen. Polizeiobermeister Erich Fritz aus Biberach ist derzeit ebenfalls in Weingarten, wenn auch rein privat. Er hat sein Pferd auf Gut Oberstaig stehen, in den Stallungen der Familie Riedle, und will, wie jedes Jahr, am Blutritt teilnehmen. Noch weiß er nichts von der verschwundenen Reliquie. Er merkt nur, dass bei Riedles noch mehr Spannungen herrschen als sonst und dass Sohn Johannes (13) vollkommen durch den Wind ist. Erst als Pfarrer Goettle ihn ins Bild setzt, kann Fritz sich ein bisschen was zusammenreimen.
Jeder hat was zu verbergen
Dass hier so viele Leute unterwegs sind, die etwas zu verbergen haben, macht den Fall kompliziert. Wenn die verschiedenen Gruppen miteinander reden würden, wär’s einfacher. So suchen die beiden Priester und POM Ernst Fritz nach der Reliquie, um die Prozession zu retten. Charlotte Riedle und ihre Schwester wollen ihren kleinen Bruder Johannes aus einem fürchterlichen Schlamassel herauspauken. Die ebenso attraktive wie ehrgeizige Kellnerin Rosalie Kern hört bei der Arbeit so einiges und phantasiert den Rest dazu. Sie verfolgt ihre eigenen Ziele, und der abgedrehte Provinzjournalist Hilmar Glanzer lässt sich nur zu gern von ihr vor den Karren spannen. Nur hat er leider keine Ahnung, wem er mit seinen Recherchen auf die Zehen tritt.
Jetzt auch noch Mord!
Da geschieht im Dunstkreis der Blutreiter ein Mord. Jetzt kommen auch noch die Hauptkommissare Yoselin Blaich und Norman Säger aus Ravensburg ins Spiel. Die wissen von den Vorgängen in Weingarten zunächst einmal gar nichts. Zwar sind die beiden ziemlich auf Zack, aber erst, als sie sich mit Goettle und Fritz austauschen, kommt Bewegung in den Fall …
Weil im Umfeld der Blutreiter jeder jeden zu kennen scheint, lauert in diesem Krimi hinter jeder Ecke eine neue Überraschung. Ich habe erst nach knapp 100 Seiten kapiert, wie die flotte Kellnerin in diese Geschichte hineingehört. Da habe ich wohl einen dezenten Hinweis überlesen. Ach so, denkt man sich als Leser:in, A hatte was mit B, C und D kennen einander beruflich, E ist scharf auf F und G kocht sein eigenes Süppchen! Im Geiste konstruiert man Querverbindungen und Motive und muss sie wenig später wieder verwerfen. Und am Schluss stellt man fest, dass man viel zu kompliziert gedacht hat. Das Böse ist oft sehr banal. (Im Übrigen hoffe ich, dass man für einen Mordversuch nicht wirklich mit einer Geldstrafe davonkommt!)
Spannend, ernst und witzig
Der Fall ist ernst und so manches Schicksal berührt einen. Witzig ist der Band trotzdem, weil eben Pfarrer Goettle so eine Marke ist. Er favorisiert unkonventionelle Problemlösungen und äußert sich in unverblümtem Schwäbisch:
„Ond [Sia] hen vergessa, die Alarmolag wieder eizumschalta“, unterbrach Goettle die Erzählung Seegmüllers. Der nickte stumm.
„Des war natürlich segglbleed (…)“ (Seite 33)
Ich mag auch die dunkelhäutige Polizistin Yoselin Blaich, die zu Goettles Erheiterung gelegentlich in ein deftiges Schwäbisch verfällt. Eigentlich ist das kein Wunder, sie ist ja in der Gegend aufgewachsen. Aber ihre Familie stammt aus Jamaika, und da traut man ihr so einen breiten Dialekt einfach nicht zu. Das ist übrigens noch die harmloseste Form von Rassissmus, der die Hauptkommissarin ausgesetzt ist.
Die Balance zwischen Spannung, Witz und Lokalkolorit hat für mich gepasst. In Weingarten muss man sich nicht auskennen, um der Handlung folgen zu können, aber Schwäbisch sollte man verstehen (und den Dialekt auch lesen können). Dr Goettle schwätzt nämlich oms Varrecka koi Hochdeitsch.
Flache Stellen …
Manchmal scheint dem Autor flachwitztechnisch ein wenig der Gaul durchgegangen zu sein (das Kneipengespräch, das Goettle mit anhört, Seite 68 ff!). Und wenn der Pfarrer von Biberach schon Goettle heißt, braucht’s dann auch noch eine dunkelhäutige Frau Blaich mit den entsprechenden Witzen und einen POM Fritz? Wisset Se, Herr Nägele, des isch fei scho a weng viel!
So klasse Hauptkommissarin Blaich ist, so klischeehaft kommt mir ihr Kollege Säger vor. Der ist eine nervige Mischung aus Adrian Monk und Professor Jasper Thalheim (Professor T.). Müssen Polizisten denn solche Macken haben? Geht’s nicht auch ’ne Nummer kleiner?
… doch clever konstruiert
Wie auch immer: Ich könnte mir durchaus vorstellen, weitere Goettle-Bände zu lesen – wenn die auch so clever konstruiert sind wie dieser. Wenn ich es richtig sehe, sind die ersten drei Bände der Reihe im Silberburg-Verlag erschienen, der keine Romane mehr veröffentlicht. Ob der Gmeiner-Verlag nun alle vier neu auflegt, kann ich nicht sagen. Momentan sehe ich dort den ersten (GOETTLE UND DER KAISER VON BIBERACH) und den neuesten (GOETTLE UND DIE BLUTREITER). Wenn die Reihe überhaupt weitergeht, dann bei Gmeiner.
Der Autor
Olaf Nägele, 1963 in Esslingen geboren, hat nach langen Aufenthalten in München, Stuttgart und Hamburg den Weg in seine Heimatstadt zurückgefunden. Dort feilt der Kommunikationswirt (KAH) an PR- und Werbetexten, verfasst als Journalist Artikel für diverse Zeitungen und arbeitet als Redakteur bei der Landeshauptstadt Stuttgart.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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