Lucinde Hutzenlaub, Heike Abidi: Ich dachte, ich bin schon perfekt

Lucinde Hutzenlaub, Heike Abidi: Ich dachte, ich bin schon perfekt. Ein Überlebenstraining für alle, die herrlich normal bleiben wollen, München 2021, Penguin Verlag, ISBN 978-3-328-10822-1, Softcover, 333 Seiten, Format: 11,9 x 2,7 x 18,7 cm, Buch: EUR 10,00 (D), EUR 10,30 (A), Kindle: EUR 9,99.

Abb.: (c) Penguin Verlag

Achtung, das ist kein Selbstoptimierungs-Ratgeber! Hier lernen wir nicht, wie wir noch schöner, klüger, schlanker, effizienter oder was auch immer werden können. Was dieses Buch allenfalls optimiert, ist unsere Gelassenheit. Und das klingt doch nach einem Plan! 

Wir pfeifen auf Perfektion!

Pfeifen wir also aus großer Höhe auf Perfektion, die wir sowieso nie erreichen können, egal wie sehr wir uns auch abstrampeln. „Gut genug“ reicht in den meisten Fällen locker aus. Mit dieser Einstellung sparen wir viel Frust, Geld und Mühe und haben mehr Zeit, unser Leben zu genießen. Wir haben ja nur ein einziges, und das möchten wir doch nicht mit irgendwelchem Firlefanz verplempern, den uns andere Leute einreden!

Ja, wenn das nur so einfach wäre! 

  • Es geistern nämlich negative Glaubenssätze durch unser Hirn, die man uns schon eingetrichtert hat, als wir noch Kinder waren und die wir verinnerlicht haben: du musst, du sollst, du bist, du darfst nicht, du kannst nicht, das tut man nicht … 
  • Wir lassen uns von den Meinungen, Erwartungen und Ansprüchen anderer Menschen  einschüchtern und uns von Fitness-Apps terrorisieren. 
  • Wir vergleichen uns mit unseren Mitmenschen, obwohl wir wissen, dass niemandes „Gesamtpaket“ perfekt ist. So sportlich wie Anke, so elegant wie Birgit, so schlank wie Christine oder so erfolgreich im Beruf wie Doris wären wir trotzdem gern. Die Sorgen, Schwächen und Probleme von Anke, Birgit, Christine und Doris wollen wir natürlich nicht haben, nur deren Vorzüge. 

Starke Seiten, schwache Seiten

Die beiden Autorinnen bekennen sich gleich eingangs zu verschiedenen Dingen, die sie weniger gut oder gar nicht können – und dazu, dass sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen. Wir haben alle unsere Stärken und Schwachstellen. Das ist in der Regel nichts, wofür man sich schämen oder woran man verzweifeln müsste. 

Später im Buch fällt der wunderschöne Satz: „Ich kann alles, was ich können möchte.“ (Seite 325) Den habe ich mir gut gemerkt! Ich habe auch ein paar Unfähigkeits-Bereiche, in denen ich mir möglicherweise mit viel Energie und Aufwand Grundkenntnisse aneignen könnte. Doch ich frage mich: Will ich das überhaupt? Ist es mir das wert? Oder lebe ich besser damit, dies oder das eben nicht (gut) zu können und im Bedarfsfall Unterstützung zu erbitten oder Profi-Hilfe „zukaufen“ zu müssen?

Gelassen, nicht verbissen!

Gelassen zu sein bedeutet übrigens nicht, dass einem alles egal ist. Es heißt nur, dass man nicht gleich übertreibt. Zum Beispiel ist es sicher sinnvoll und gesundheitsfördernd, sich ausgewogen zu ernähren, sportlich zu betätigen, ausreichend zu schlafen und sich gewichtsmäßig in keinem allzu extremen Bereich zu bewegen. Es ist aber nicht erforderlich, dies verbissen und mit quasi-religiösem Eifer zu tun. Den umständlichen Gesundheitskasper im Café, von dem Lucinde in ihrem Beitrag EINMAL SUPERFOOD, BITTE (Seite 25 ff.) erzählt, hätte ich am liebsten gebissen. 😀

Krachend scheiterte ich am Popkultur-Quiz NOBODY IS PERFECT (Seite 64 ff.). Aber wie der Titel schon sagt …

Wir sind keine Projekte!

Wir sind Menschen und keine ständig verbesserungswürdigen Projekte. Natürlich ist es wunderbar, wenn man lebenslang dazulernt und/oder seinen Kindern verschiedene Freizeit-Aktivitäten anbieten kann, damit sie herausfinden, was ihnen Freude macht und liegt. Aber um jeden Preis immer besser, e.ektiver und organisierter werden und auch noch wahre Wunderkinder heranziehen zu wollen, das ist der pure Stress und kann einfach nicht glücklich und zufrieden machen! Dasselbe gilt für das Bestreben, es jedem recht machen zu wollen und die eigenen Bedürfnisse darüber zu vergessen. Der Beitrag dazu (Seite 91 ff) ist erschütternd, weil er so nah an der Wirklichkeit ist. Man müsste viel öfter „nein“ sagen. Aber das müssen die meisten von uns erst üben und lernen.

Wir brauchen keine Erlaubnis!

Und wie ordentlich und durchorganisiert „muss“ eigentlich ein Haushalt sein? Wo steht geschrieben, dass allein die Frau/Mutter für diesen zuständig ist? Was macht man, wenn man einfach von Haus aus ein unordentlicher oder schusseliger Mensch ist und sich jedes Jahr vor der Steuererklärung dumm und dämlich sucht, weil man einfach seine Ablage nicht in den Griff kriegt? Und ist es okay, wenn man die Bügelwäsche einfach mal liegen lässt und sich mit einem spannenden Buch in die Sonne setzt? Ja, meinen die Autorinnen und haben einen weiteren Ausspruch geprägt, den ich nicht so schnell vergessen werde: „Sie sind schon groß. Sie brauchen keine Erlaubnis.“ (Seite 140)

Wir erfahren ferner, wo und wie man Ruhe und Entspannung findet, warum nicht jeder Mensch etwas mit Meditation anfangen kann und wieso das omnipräsente Geschwätz von der Achtsamkeit so nervt. Wenn man mal darüber nachdenkt, ist es schrecklich unfair, wie Druck, den wir von außen kriegen (z.B. Mehrfachbelastung, Arbeitsverdichtung etc.) wie von Zauberhand zu unserer ureigensten Privatsache wird, die wir bei Yoga und Relax-Tee wegatmen und weglächeln sollen.

Das Buch geht außerdem den Fragen nach, wie wir gut für uns sorgen können, ohne den Affentanz um Jugendwahn und unerreichbare Schönheitsideale mitzumachen … wie sich Erfolg bemisst – nicht nur am Kontostand! – … was das Tolle am Improvisieren ist und wie man Freude an Aktivitäten haben kann, in denen man es nie zu wahrer Meisterschaft bringen wird. Wir finden eine Liste mit negativen Glaubenssätzen, die kein Mensch braucht, die uns aber nur zu vertraut sind. Und eine Liste mit positiven Statements, die uns Mut machen und weiterbringen, finden wir hier ebenfalls.

Tipps auf Augenhöhe

Nachdem ich nun schon ein paar Bücher des Autorinnenteams gelesen habe, habe ich beinahe das Gefühl, sie und ihre Familien persönlich zu kennen. Und weil sie hier so sympathisch, humorvoll und uneitel aus dem Nähkästchen plaudern, ist man gerne bereit, das eigene Verhalten zu hinterfragen. Mir jedenfalls fällt es leichter, Veränderungen in Erwägung zu ziehen, wenn ich das Gefühl habe, hier teilen „Leidensgenossinnen“ auf Augenhöhe ihre Erfahrungen und Tipps mit mir, als wenn mir ein:e Expert:in sachlich-distanziert vorführt, wo bei mir Handlungsbedarf besteht. Okay, in diesem Fall wäre es vielleicht eher „Unterlassungsbedarf“ als „Handlungsbedarf“. Es geht ja darum, manches Unsinnige bleiben zu lassen. 

Ich habe gelernt: „Nein“ ist eine vollständige Antwort und bedarf keiner Rechtfertigung. „Ich habe keine Lust“ ist ein ernst zu nehmender Grund und gehört zu den positiven Glaubenssätzen. Und dass ich auch mal eine Verpflichtung schwänzen kann und dazu keine Erlaubnis benötige, habe ich nicht nur kapiert, sondern sogar schon umgesetzt: Ich habe am Wochenende einen Termin sausen lassen und stattdessen dieses Buch gelesen. 🙂

Die Autorinnen

Lucinde Hutzenlaub wurde in Stuttgart geboren, wo sie nach mehreren Auslandsaufenthalten wieder lebt. Sie ist verheiratet und hat drei Töchter und einen Sohn. Lucinde arbeitet als Kolumnistin und Autorin und findet, Perfektion wird völlig überbewertet.

Heike Abidi lebt zusammen mit Mann, Sohn und Hund in der Pfalz bei Kaiserslautern. Sie arbeitet als Werbetexterin und Autorin von Unterhaltungsromanen, unterhaltenden Sachbüchern sowie Jugend- und Kinderbüchern. Sie findet, dass Gelassenheit glücklicher macht als der Versuch, sich ständig selbst zu optimieren.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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