Hermien Stellmacher: Was bleibt, wenn alles verschwindet. Roman

Hermien Stellmacher: Was bleibt, wenn alles verschwindet. Roman, Berlin 2021, Insel Verlag, ISBN 978-3-458-68152-6, Softcover, 364 Seiten, Format: 11,8 x 2,4 x 19,1 cm, Buch: EUR 10,95 (D), EUR 11,30 (A), Kindle: EUR 10,99.

Abb.: (c) Insel Verlag

Vor drei Jahrzehnten haben sich die Kolleginnen Ruth Hagedorn (jetzt 62) und Susanne Bender (70, längst pensioniert) im Lehrerzimmer kennengelernt. Seitdem sind sie beste Freundinnen. Sie haben gemeinsame Interessen, einen ähnlich schrägen Humor und reden über fast alles. In stiller Übereinkunft sparen sie jedoch das Thema „Elternhaus“ aus. Beide haben keine guten Erinnerungen an ihre Herkunftsfamilie. Ruths Vater und Bruder waren bösartige Narzissten, die Mutter verhuscht und frömmlerisch. So schnell es ging ist sie dort ausgezogen und hat nicht mehr zurückgeblickt.

Erste Anzeichen einer Demenz

Bei Susanne daheim drehte sich alles um den kranken Vater. Sie selbst fand Zuflucht in einer WG und hatte eine vielversprechende Karriere vor sich, die nichts mit ihrem späteren Beruf als Lehrerin zu tun hatte. Davon ahnt Ruth nichts. Und es gibt noch etwas, das Susanne ihr aus nachvollziehbaren Gründen bisher verschwiegen hat. Doch jetzt hält die Pensionärin die Zeit für gekommen, reinen Tisch zu machen – solange sie es noch kann. Aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte ist sie nämlich bestens vertraut mit den Symptomen beginnender Demenz. Genau diese Symptome bemerkt sie neuerdings an sich selbst.

Lebensbeichte im Schulheft

Weil sie sich nicht traut, ihrer Freundin ihre Geschichte von Angesicht zu Angesicht zu erzählen, schreibt sie ihre Lebensbeichte nieder. Nach und nach, wie ihre Kräfte es zulassen, füllt sie damit ein Schulheft, und wir Leser:innen haben bald eine vage Ahnung davon, wie die Schicksale der beiden Freundinnen miteinander verknüpft sein könnten.

Parallel zu dieser allmählichen Enthüllung eines lange gehüteten Geheimnisses erleben wir hautnah Susannes geistigen Verfall mit. Das Schlimme ist, dass ihr selbst vollkommen klar ist, was mit ihr passiert. Es ist ihr bewusst, dass ihr Alltagsbegriffe nicht mehr einfallen, dass sie Erinnerungslücken hat und nicht weiß, was sie gesagt und getan hat oder was sie gerade tun wollte. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist dagegen sehr lebendig. 

Auch Ruth bekommt diese Veränderungen mit und merkt bald, dass man diese Aussetzer nicht nur aufs Alter schieben kann. Es wird immer schlimmer. Susanne ruft zu jeder Tages- und Nachtzeit an, vergisst Verabredungen und erzählt immer das gleiche.

Verdrängung bringt nichts

Anscheinend macht Ruth sich mehr Sorgen um ihre Freundin als deren Sohn es tut. Der vielbeschäftigte Paul verschließt die Augen vor dem Zustand seiner Mutter und spielt die Sache herunter. Er kann nichts gebrauchen, was sein Leben noch stressiger und komplizierter macht. Aber durch Verdrängung geht die Demenz leider nicht weg. 

Pauls Frau Sandra ist in dieser Angelegenheit ein Totalausfall: eine überengagierte Ökowachtel und Essensneurotikerin, der angesichts der Erkrankung ihrer Schwiegermutter nur eines einfällt: ihr den Umgang mit den Enkelkindern zu verbieten. 

Also übernimmt es Ruth zusammen mit ihrem Mann Gustav, sich um Susanne zu kümmern. Das ist eine schwere und anspruchsvolle Aufgabe, die ich mir nicht zutrauen würde. Die Eheleute Hagedorn haben meinen vollen Respekt für das, was sie für eine Freundin auf sich nehmen. Werden sie das auch weiterhin tun, wenn sie das Heft mit Susannes Lebenserinnerungen in die Hände bekommen? 

Berührend und beklemmend

Wie die beiden Frauen seit Jahrzehnten füreinander einstehen, ist sehr berührend. Beklemmend ist es, mitzuerleben, wie die kluge, gebildete Susanne mehr und mehr ins Vergessen abdriftet. Als Leser:in ertappt man sich dabei, seinen eigenen Geisteszustand in Zweifel zu ziehen, wenn einem ein Wort nicht gleich (oder nicht in der richtigen Sprache) einfällt, man wieder mal Brille, Schlüssel oder Hausschuhe sucht oder einen unliebsamen Termin erfolgreich verdrängt hat. Mich hat dann beruhigt, dass ich diese Probleme auf gleichbleibendem Niveau schon mein Leben lang habe. Es ist eben eine erschreckende Vorstellung, den Verstand zu verlieren.

Die einzigen, die unbefangen mit Susannes Veränderung umgehen, sind ihre kleinen Enkel. Die verstehen die Tragik dahinter noch nicht und finden es lustig, wenn Oma sich unberechenbar und unangepasst benimmt.

Nahe an der Realität

Auch wenn es in diesem Roman ein spannendes Geheimnis zu enthüllen gibt, man auch mal was zu lachen hat und der Schluss Zuversicht vermittelt – es ist keine leichte Lektüre. Deprimierend nahe an der Realität wird hier erzählt, was Demenz für Betroffene und Angehörige bedeutet. Man würde sich wünschen, dass jeder Mensch, den diese Krankheit trifft, so gute Freunde an seiner Seite hat wie Susanne. Im wahren Leben wird das wohl nicht immer der Fall sein.

Manchmal hatte ich Schwierigkeiten, die Familiengeschichten der beiden Freundinnen auseinanderzuhalten, weil sie sich in ihrer Tristesse doch ähneln und weil sie einem so häppchenweise serviert werden. Ich habe mir schließlich Notizen gemacht. Aufgeben war keine Option! Ich wollte unbedingt wissen, wie Ruth auf die „Beichte“ ihrer Freundin reagiert – und ob Susannes Familie doch noch irgendwann aus dem Quark kommt und sich um die Mutter kümmert, oder ob sie das völlig ungerührt Fremden überlässt. Die haben schon Nerven, die Benders!

Die Autorin

Hermien Stellmacher, geboren 1959, wuchs in Amsterdam auf. Im Alter von 15 Jahren zog sie nach Deutschland. Sie illustrierte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Seit einigen Jahren schreibt sie hauptsächlich für Erwachsene, zum Teil unter dem Pseudonym Fanny Wagner. Wenn sie nicht gerade in der Provence weilt, lebt sie mit ihrem Mann und zwei Katern in einem kleinen Dorf in der Fränkischen Schweiz.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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