Joan Weng: Die rote Tänzerin. Die Nacht ist ihre Bühne, ihre Kunst unbezähmbar. Roman, Berlin 2022, Aufbau Verlage, ISBN 978-3-7466-3832-4, Softcover, 253 Seiten, Format: 11,6 x 2,7 x 18,8 cm, Buch: EUR 12,00 (D), EUR 12,40 (A), Kindle: EUR 8,99.
„Anita, die immer so viel Wert darauf gelegt hatte, dass sie keine simple Nackttänzerin, sondern eine Künstlerin ohne Kleider war. Anita, die mit solcher Wucht gegen alles Verknöcherte, Biedere, Brave angetanzt hatte. […] Und nun sollte sie plötzlich Anita Berber, die orientalische Tänzerin sein – weil die Rechnungen gezahlt werden mussten? Wann hatte Anita sich je um Geld geschert?“
Seite 196
Berlin 1925: Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber, 26, ist in dritter Ehe mit dem US-amerikanischen Tänzer Henri Châtin Hofmann verheiratet und hat beruflich schon bessere Tage gesehen. Gesundheitlich auch. Die jahrelange Drogensucht fordert ihren Tribut. So wacht sie zum Beispiel eines Morgens auf und erkennt ihren eigenen Mann nicht. Wenn sie ihre Freundin und Managerin Susi Wanowski nicht hätte, wäre sie schon längst am Ende.
Susi vermittelt ihr den Kontakt zum Agenten Benjamin Morgenstern, der ihr vorschlägt, mit orientalischen Tänzen aufzutreten. Anita ist nicht begeistert. Sie fühlt sich gekränkt. Für sie besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen ihrer Kunst, die einen unbekleideten Auftritt erfordert und ordinärem Nackttanz. Und das, was Morgenstern ihr anbietet, fällt in die zweite Kategorie.
Skandalöse Auftritte
Außer Anita scheint niemand diesen Unterschied zu sehen. Die fragen sich wahrscheinlich alle, warum sie sich so anstellt. Durch ihre skandalösen Auftritte und ihr nicht minder skandalöses Benehmen ist sie schon aus verschiedenen Clubs geflogen und wurde sogar einmal des Landes verwiesen. Okay, an der Ausweisung war vielleicht Gatte Nummer 2 Schuld: Baron Sebastian von Droste. Pfff! Baron! Von wegen! Willi Knobloch hieß der diebische Schmock! Doch Kunst hin, Stolz her: Anita braucht Geld und wird Morgensterns Angebot wohl oder übel annehmen müssen.
Doch zunächst einmal steht ein Termin mit dem Maler Otto Dix an. Auch das hat Susi Wanowski eingefädelt. Dix will die Berber porträtieren. Sie trifft sich mit ihm und ist höchst überrascht, dass er sie in bürgerlicher Aufmachung und ohne das starke Bühnen-Make-up gar nicht erkennt. Er hat sie für eine junge Dame aus gutem Haus gehalten. Aber das ist sie doch auch! Sie ist die Tochter des Violinvirtuosen Professor Felix Berber und der Kabarettistin und Chansonsängerin Lucie Berber. Sie hat in Dresden die höhere Töchterschule besucht und war einige Monate im Internat eines Töchterbildungsinstituts in Weimar. Auch wenn sie sich manchmal vulgär gibt: Aus der Gosse stammt sie nicht.
Der Traum vom kleinen Glück
Anita wundert sich, dass Dix sich über sie wundert. Für sie ist „die Berber“ nur eine Rolle. Sie ist Anita, eine ganz normale, lebenslustige Frau. Und eine kleine Spießerin steckt wohl auch in ihr. In ihrer Fantasie malt sie sich aus, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie damals in Budapest ihren Verlobten, den Tierarzt Fritz Leopold, geheiratet und die Tanzkarriere für ihn aufgegeben hätte. Kind, Haushalt, Garten … ach, das wäre schön gewesen! Aber das Tanzen hätte ihr schon sehr gefehlt.
Dix‘ Gattin Martha, eine sehr kluge, gebildete und pragmatische Frau, findet Anita Berber auch erstaunlich sympathisch und umgänglich. Sie hat kein Problem damit, die beiden drei Tage lang allein zu lassen. So lange soll Anita dem Künstler Modell stehen.
Anita und Dix: Seelenverwandte
Dix jedoch langweilt sich inzwischen mit Frau und Kind, obwohl ihn klar ist, dass er mit der loyalen und vermögenden Martha das große Los gezogen hat. In der Berber glaubt er, eine verwandte Seele zu erkennen, einen getriebenen Menschen, der, genau wie er, nur für die Kunst lebt und mit „normalen“ Maßstäben nicht zu messen ist. Auch er fühlt sich von seinem Umfeld missverstanden. Er will nicht nur als Antikriegsmaler wahrgenommen werden. Er hat so viel mehr zu sagen und eine große stilistische Vielfalt zu bieten!
Anita spürt diese Verbundenheit ebenfalls. „Sie war die Inflationsprinzessin, und die Inflation war vorbei, jetzt war sie wertlos wie ein Hundertrausendmarkschein. Vielleicht verstand Otto all dies, auch ohne dass sie es erklärte?“ (Seite 206)
Zukunft?
Auch wenn Otto und Anita sich zueinander hingezogen fühlen und vieles gemeinsam haben – hätten sie denn zusammen eine Zukunft? Anita scheint zu ahnen, dass sie keine hat …
Das ist jetzt nicht direkt ein Spoiler. Auch wenn Joan Weng hier keine Biographie der Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber vorlegt, sondern einen Roman, basierend auf historischen Fakten: Anita Berber war eine reale Person, über deren Leben man vielleicht schon mal was gelesen hat.
„Je mehr Monographien ich über die Berber las, desto mehr faszinierte sie mich“, schreibt die Autorin im Nachwort. „Ihr wilder Lebenshunger, ihre Verletzlichkeit und auch ihr früher Tod waren für mich immer sinnbildlich für die junge Weimarer Republik.“ (Seite 247)
Die Autorin nimmt sich, vor allem bei den Nebenfiguren, ein paar dichterische Freiheiten, um uns eine Vorstellung davon zu geben, wie Anita Berber gewesen sein könnte. Was Dichtung und was Wahrheit ist, erklärt sie uns im Anhang. Für mich, die ich nur ein paar dürre Fakten über das Leben von Anita Berber kannte, liest sich die Geschichte plausibel. Und wer, nachdem er diesen Roman gelesen hat, mehr über die Protagonistin wissen möchte, kann gern den Literaturempfehlungen folgen, die die Autorin im Buch gibt.
Was wirklich geschah …
Was in den drei Tagen des Modellsitzens zwischen der Tänzerin und dem Maler vorgefallen oder nicht vorgefallen ist, weiß man nicht. Das Porträt „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ gibt’s aber wirklich. Es hängt in Stuttgart im Kunstmuseum. Vielleicht verlief die Sitzung wirklich so ähnlich wie Joan Weng es in diesem Roman beschreibt. Martha Dix, Ottos Frau, wird schon einen Grund gehabt haben, sich danach so spitz über die Berber zu äußern, wie es überliefert ist.
Überhaupt: Martha Dix! Sie spielt hier nur eine Nebenrolle, ist aber eine überaus interessante Frau mit einer für die damalige Zeit außergewöhnlichen Lebensgeschichte. Das gilt auch für die Galeristin Johanna Ey, ebenfalls eine historische Person. Schon verschwindet man als Leser:in im Kaninchenbau des Internets und sucht nach Informationen über die Eheleute Dix und „Mutter Ey“. Und, zack, ist man wieder ein bisschen schlauer geworden und verdankt das diesem unterhaltsamen und berührenden Roman.
Erstkontakt
Für mich sind Romane über berühmte Persönlichkeiten immer so eine Art „Erstkontakt“ oder „Appetithappen“. Wenn ich dann finde, dass sich eine nähere Beschäftigung mit diesem Menschen lohnen könnte, mache ich mich auf die Suche nach weiterführenden Fakten. Von einem Roman erwarte ich gar nicht, dass er mir schon allumfassende Informationen liefert. Das ist nicht sein Job. Ein Roman soll uns unterhalten, vielleicht ein bisschen Stoff zum Nachdenken bieten und – im Fall dieses Genres – auf die reale Person neugierig machen. Das alles kriegt Joan Wengs DIE ROTE TÄNZERIN wunderbar hin.
Sollte die Autorin je auf die Idee kommen, ihre umfangreichen Recherchen für diesen Roman dazu zu nutzen, ein Sachbuch über Anita Berber zu schreiben: Ich würd’s gerne lesen!
Die Autorin
Joan Weng, geboren 1984, studierte Germanistik und Geschichte und promoviert über die Literatur der Weimarer Republik. Im Aufbau Taschenbuch sind die Romane „Amalientöchter“, „Das Café unter den Linden“, „Die Frauen vom Savignyplatz“ und „Die Damen vom Pariser Platz“ sowie die Kriminalromane „Feine Leute“ und „Noble Gesellschaft“ lieferbar. Mehr zur Autorin auf www.joanweng.de
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com