Susanne Goga: Glasgow Girls. Aufbruch in die Welt der Kunst, München 2022, Diana Verlag, ISBN: 978-3-453-36120-1, Klappenbroschur, 381 Seiten, Format: 11,8 x 3,2 x 19 cm, Buch: EUR 12,00 (D), EUR 12,40 (A).
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass schon vor unserer Geburt festgelegt ist, wem wir irgendwann einmal begegnen. Auch nicht durch Gott. Aber ich glaube an etwas anderes: Wenn ich etwas will und es mir wirklich wünsche und mich darum bemühe, kann es Wirklichkeit werden. So wie die Sache mit meinem Studium.“
(Seite 137)
Die großen Träume einer Arbeitertochter
Glasgow 1892 ff.: Die Arbeitertochter Olivia MacLeod zeichnet gern und gut und träumt davon, als Künstlerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch für einen Teenager aus dem ärmlichen Viertel Dennistoun ist das unerreichbar. Nie wird sie genügend Bildung und Geld aufbringen können, um an der Glasgow School of Arts studieren zu können, von der ihr Alistair „Allie“ Campbell, ein Freund seit Kindertagen, so begeistert erzählt hat.
Ja, wenn Olivias kunstinteressierter Vater noch leben würde, hätte sie vielleicht länger zur Schule gehen können. Aber jetzt ist er an einer Berufskrankheit gestorben und Olivia ist klar, dass ihre Mutter mit ihrem Lohn als Schneiderin nicht die ganze Familie durchbringen kann. Sie wird schnellstmöglich die Schule verlassen und arbeiten gehen müssen, um, wie ihr Bruder Jamie, zuhause Kostgeld abgeben zu können. Aber in eine Fabrik gehen will sie auf gar keinen Fall!
Zwei Zufallsbegegnungen verändern Olivias Leben: Sie läuft dem Architekten Charles Rennie Mackintosh buchstäblich über den Weg und sie findet Arbeit in einem der Teesalons von Kate Cranston, die dafür bekannt ist, Künstler:innen großzügig zu fördern.
Die Chefin erkennt Olivias Talent
Miss Cranston ist sehr zufrieden mit ihrer neuen Kellnerin und fällt nach zwei Jahren guter Zusammenarbeit aus allen Wolken, als sie feststellt, wie gut ihre Bedienung zeichnen und sticken kann und dass sie ihre private Kleidung selbst entwirft. Sie bietet Olivia an, ihr die Studiengebühren für die Glasgow School of Arts vorzustrecken. Olivia kann das Geld abarbeiten und/oder später zurückzahlen.
Die begabte junge Kellnerin kann ihr Glück kaum fassen. Ihr persönliches Umfeld aber ist stinksauer. Aufstiegsversuche sind da nicht gern gesehen. Wenn es nach Familie und Freunden ginge, müsste Olivia ihre Träume aufgeben, ihren Kindheitsfreund Allie heiraten und in dem Restaurant bedienen, in dem er als Koch arbeitet. Aber, sorry, Leute, das ist nicht Olivias Plan!
Sie nimmt das Angebot ihrer Chefin an. Einfach ist das alles nicht. Ihre Mitschülerinnen entstammen der wohlhabenden Mittelschicht, werden von ihren Familien unterstützt und gefördert und können sich voll auf ihr Studium konzentrieren. Und Zeichenunterricht hatten sie von Kindesbeinen an. Olivia ist Autodidaktin, muss neben dem Studium arbeiten und hat daheim mit einer feindseligen Stimmung zu kämpfen.
Ein unerwartetes Angebot
Aber sie beißt sich durch und findet an der Schule Menschen, die sie mögen, schätzen und fördern. Nur mit dem Zeichenlehrer Robinson rasselt sie aneinander. Er scheint nicht viel von ihr zu halten. Umso überraschter ist Olivia, als er ausgerechnet auf sie zukommt und ihr einen bezahlten Auftrag einer Porzellanfabrik vermittelt. Sie kann das Geld gut gebrauchen! Seltsam nur, dass sie über diesen Job absolutes Stillschweigen bewahren muss. Aber gut, der Professor muss es ja wissen!
Gabriel Jones, ein Künstler aus London, mit dem Olivia sich angefreundet hat, hätte zu diesem Vorgehen allerhand zu sagen, aber sie sprechen ja nicht darüber. Es ist überhaupt eine sonderbare Beziehung, die die beiden haben. Man hat schon das Gefühl, dass sie mehr als nur kollegiale Freundschaft verbindet, doch verschwindet Gabriel immer wieder unangekündigt und geht monatelang „auf Tauchstation“. Was hat er wohl zu verbergen?
Wenn die Menschen rechtzeitig offen miteinander reden würden, gäb’s keine Geheimnisse und keine spannenden Geschichten. Aber weil Menschen Ängste und Unsicherheiten haben oder fiese Hintergedanken, verschleiern sie, was sie wirklich umtreibt.
Ein Skandal aus heiterem Himmel
Aus heiterem Himmel findet sich die gutgläubige Olivia im Zentrum eines handfesten Skandals wieder und droht alles zu verlieren, was ihr wichtig ist und wofür sie so hart gearbeitet hat. Nicht einmal ihre engsten Freunde glauben ihr! Jetzt kann eigentlich nur noch ein Wunder helfen. Oder ein paar Herrschaften hier packen endlich mal die Wahrheit auf den Tisch!
Das ist wieder so ein Buch, bei dem man nebenher ständig googelt, weil man wissen will, wie denn die künstlerischen Werke wirklich ausgesehen haben, auf die im Roman Bezug genommen wird.
Man kann nicht umhin, Olivia zu bewundern, wie sie sich gegen alle Widerstände in einer für sie fremden Welt behauptet. Und man ahnt die ganze Zeit, dass es für sie wohl nicht stetig aufwärts gehen wird und dass irgendwann der Moment kommen muss, der sie wieder in das ärmliche Leben zurückkatapultieren könnte, das sie niemals führen wollte.
Aufstieg und Fall einer Arbeitertochter? Als Leser:in hofft man, dass sie sich mit der ihr eigenen Zähigkeit aus ihrer existenziellen Krise wieder herauswursteln wird.
Aus der Traum?
Olivia ist klug und talentiert, beharrlich und ehrgeizig, aber mitunter auch naiv und vertrauensselig. Mit manchen Ideen und Schurkereien, mit denen sie jetzt konfrontiert wird, ist sie noch nie zuvor in Berührung gekommen. Ist sie dem Künstlerleben, das sie unbedingt führen will, überhaupt gewachsen?
Ich habe Olivia MacLeod sehr gern auf ihrem eigenwilligen Weg begleitet. Nur hatte ich gehofft, dass man der intrigantesten Person in dieser Geschichte so kräftig in den Allerwertesten treten würde, dass sie so eine Nummer garantiert nie wieder abziehen kann. Danach sieht es leider nicht aus. Aber wer weiß? Vielleicht eilt ihr ja fortan ihr schlechter Ruf voraus. Dafür kann man in einer überschaubaren und gut vernetzten Szene ganz gut sorgen …
Es ist ein gutes Zeichen, finde ich, wenn man sich noch über den Roman hinaus Gedanken über das Schicksal der Figuren macht. Dann haben sie für uns Leser:innen wirklich sowas wie ein Leben entwickelt.
„Man taucht in die faszinierende Welt der schottischen Teesalons ein. Erfährt die Entwicklung der Arts-und-Crafts- und Jugendstil-Bewegung sowie die gesellschaftlichen Umgangsformen und Kleidermoden und dass viele Künstlerinnen Ende des 19. Jahrhunderts wegweisend und sehr erfolgreich waren.“ –
Aus dem Pressetext des Verlags
Historische Persönlichkeiten, die im Buch vorkommen:
Nell Paxton Brown, Kate Cranston, De Courcy Lewthwaite Dewar, Annie French, Frances Macdonald, Margaret Macdonald, Charles Rennie Mackintosh, Herbert McNair, A.J. Moffat, Anna Muthesius, Hermann Muthesius, Francis Newberry, Jessie Newberry, Gleeson White, Oscar Wilde
Die Autorin
Susanne Goga wurde 1967 in Mönchengladbach geboren und lebt dort bis heute. Die renommierte Literaturübersetzerin und Autorin reist gern – mit Vorliebe auch in die Vergangenheit. Das spiegelt sich in ihren überaus erfolgreichen historischen Romanen wider. Für die Kriminalreihe um Leo Wechsler taucht sie ein ins Berlin der 1920er-Jahre, für den Diana Verlag begibt sie sich immer wieder ins geschichtsträchtige 19. Jahrhundert. Die Künstlerinnen in Glasgow, die dort in jener Zeit ein kreatives Forum gründeten und in ganz Europa berühmt wurden, waren Inspiration für ihren neuesten Roman.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de