Rebecca Michéle: Die Farben der Schmetterlinge. Roman

Rebecca Michéle: Die Farben der Schmetterlinge. Roman, München 2025, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-22076-7, Klappenbroschur, 396 Seiten, Format: 12,3 x 2,87 x 19,1 cm, Buch: EUR 13,00 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99.

Abb.: (c) dtv

„Ich werde alles tun, was von mir gefordert wird, und meine ganze Kraft und Energie aufbringen, um die erste Frau zu sein, die in Württemberg die Reifeprüfung erlangt.“

(Seite 110)

„Ein Leben, ohne zu lernen und zu forschen, ist für mich nicht erstrebenswert.“

(Seite 228)

Von Maria Gräfin von Linden, geboren 1869 auf einem Schloss auf der Ostalb, hatte ich noch nie zuvor gehört. Dabei war sie die erste württembergische Studentin und die erste Professorin im deutschen Kaiserreich. Wie konnte das an mir vorbeigehen? Auch der Autorin hat der Name nichts gesagt, ehe man ihr dieses Buchprojekt angetragen hat. Entweder sind wir zwei besonders ahnungslose Baden-Württembergerinnen – wovon ich nicht ausgehe — oder die Naturwissenschaftlerin von Linden gehört zu den vielen „vergessenen“ Frauen.

Wissenslücken lassen sich zum Glück schließen, und mit einer so spannenden und unterhaltsamen Romanbiographie tut man das gern.

Königreich Württemberg, ausgehendes 19. Jahrhundert: Komtess Maria von Linden wächst ein bisschen verwildert auf Schloss Burgberg am Rand der Schwäbischen Alb auf. Sie stromert gern durch die Natur, interessiert sich für Steine und für alles, was kreucht und fleucht. Unterrichtet wird sie vom Dorflehrer, der extra dafür aufs Schloss kommt.

An typischen Mädchendingen wie Puppen, Handarbeiten oder schöner Kleidung hat Maria kein Interesse. Ihre Mutter zwingt sie auch nicht dazu. Die Großmutter aus Stuttgart ist da strenger. Sie will aus dem wissbegierigen und schlagfertigen Wildfang partout eine brave junge Dame machen, die man gut verheiraten kann. Dass Maria andere Ziele hat, kümmert keinen. Die Kleine weiß schon früh, was sie will: so lange zur Schule gehen, bis sie alles weiß, was sie wissen möchte. Und niemals heiraten!

Einen Vater hat das Kind auch: Graf Edmund von Linden, dem die Tochter, genau wie alles andere, völlig egal ist. Widerwillig verwaltet er seine Liegenschaften und trauert dabei seiner Militärzeit hinterher. Entweder steckt er in einem völlig falschen Leben fest und ist deswegen so grantig, oder er ist depressiv.

Maria hat es hauptsächlich ihrer Mutter zu verdanken, dass sie 1883 das Victoria-Mädchenpensionat in Karlsruhe besuchen darf. Auch da eckt die unkonventionelle Komtess an, findet aber auch Freundinnen fürs Leben. Nur mit deren Lebenszielen kann sie sich nicht identifizieren. Schulabschluss, heiraten, Kinder kriegen? Nein, danke! Maria möchte das Abitur machen und studieren. In Württemberg ist das noch undenkbar, in der Schweiz geht‘s. Dort könnte sie ihr Vorhaben problemlos realisieren, die finanziellen Mittel vorausgesetzt, aber sie möchte lieber eine Pionierin im eigenen Land sein. Überraschende Unterstützung erhält sie von einem Onkel und dessen Frau, mit denen sie bislang nie viel zu tun hatte. Sie wundert sich ein bisschen, aber einem geschenkten Gaul …

Die Abiturprüfung könnte sie als „Externe“ an einem Stuttgarter Realgymnasium ablegen. Dafür müsste sie ein paar Wissenslücken auffüllen, aber das ist für die fleißige und gut organisierte Maria kein Problem. Doch die Genehmigung zieht sich über Jahre hin. Maria befürchtet, dass diese Verzögerungstaktik Absicht ist und/oder dass sie alt und grau sein wird, bis man sie endlich zu Abitur und Studium zulässt. (Müssen die damals Angst vor schlauen Frauen gehabt haben!)

Nun, wir wissen ja, das sie’s bis zur Professorin gebracht hat. Wie lange, zäh und kräftezehrend dieser Weg war, das lesen wir hier. Und es ist wirklich heftig! Auch wenn es Maria egal ist, was die Leute von ihr denken und sie Unverschämtheiten schnell und wirkungsvoll parieren kann: Aus heutiger Sicht ist es unfassbar, was sie sich alles anhören und gefallen lassen muss! Und nicht nur von den Studenten! Die Professoren sind da keinen Deut besser.

Dass sie als unverheiratete Frau ihren Lebensunterhalt selbst wird verdienen müssen, ist ihr klar. Sie will aber keinen Mann, auch wenn es trotz ihres unweiblichen Auftretens an Bewerbern nicht mangelt. Heiraten ist einfach nichts für sie! Forschen und lehren will sie! Doch damit, dass sie schon während ihrer Ausbildung die Unterstützung ihrer Familie verliert, hat sie nicht gerechnet! Und jetzt?

Maria von Linden muss schon sehr speziell gewesen sein und nicht ganz leicht im Umgang, hatte sie doch nicht die geringste Absicht, den gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit zu entsprechen. Brav, adrett, bescheiden, abhängig und zu den Männern aufschauend? Auf keinen Fall! Intelligent, wissensdurstig, ehrgeizig und fokussiert, das ja! Ich habe die Romanfigur Maria gemocht und war stets auf ihrer Seite. Und wieder mal habe ich gesehen: Aus wilden Kindern werden gern unangepasste Erwachsene. Und Menschen, die ihrer Zeit voraus sind, haben es schwer.

Die Geschichte wird zwar nicht von einer Ich-Erzählerin präsentiert, aber doch aus Marias Sicht geschildert. Und so sind wir ebenso überrascht und erschüttert wie sie, wenn sich im Nachhinein herausstellt, welche Motive ihre Mitmenschen für ihr Handeln hatten. Nicht jeder, der sich auf den ersten Blick gemein verhält, ist tatsächlich ein Schurke. Dafür entpuppt sich mancher vorgebliche Freund bei näherem Hinsehen als egoistischer Lump.

DIE FARBEN DER SCHMETTERLINGE ist keine reine Biographie, sondern die romanhafte Aufbereitung der Lebensgeschichte Maria von Lindens. Im Nachwort erklärt die Autorin kurz, was an der Geschichte historisch belegt ist und in welchen Bereichen sie fiktionale Ergänzungen vorgenommen hat. Das wird nicht für jede einzelne Romanfigur geklärt, und nun würden mich zwei Dinge interessieren: Gab’s den Apotheker wirklich, der im letzten Kapitel auftaucht? Und wieso ist Marias Bruder so plötzlich vom Familienradar verschwunden? Der war doch immer das goldene Kind! Womit Maria es sich bei ihrer konservativen Adelssippe verscherzt hat, erleben wir hautnah mit. Aber warum der Kontakt zu Wilhelm von Linden auf einmal verlorengeht, bleibt offen. Vielleicht ist das gar nicht überliefert. Ich hätt’s aber gern gewusst!

Ich habe hier auf unterhaltsame Weise wieder einiges dazugelernt und weiß jetzt, worum es geht, wenn mir der Name „Maria von Linden“ doch irgendwo begegnet.

Rebecca Michéle, 1963 in Rottweil geboren, schreibt seit ihrer Jugend und hat unter verschiedenen Pseudonymen bereits über 40 Romane veröffentlicht. Eine besondere Beziehung verbindet sie mit den britischen Inseln, wo viele ihrer Geschichten spielen. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie 30 Jahre lang erfolgreiche Turniertänzerin. Seit 2000 ist Rebecca Michéle freie Autorin und lebt aktuell mit ihrer Familie am Fuß der Schwäbischen Alb.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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