Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa. Roman

Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa. Roman. OT: My Dark Vanessa, aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, München 2020 bzw. 2022, C. Bertelsmann bzw. Penguin, beides Imprints von Random House, Hardcover mit Schutzumschlag: ISBN 978-3-570-10427-9, 448 Seiten, Format: 14,7 x 4,1 x 22,1 cm, Taschenbuch: 978-3-328-10898-6, 448 Seiten, Format: 12,2 x 3 x 18,3 cm, EUR 13,00, Kindle: EUR 9,99.

Abb.: (c) Penguin

„Es muss eine Liebesgeschichte sein, darauf kann ich nicht verzichten. Verstehen Sie? Das ist ganz, ganz wichtig für mich.“
„Ich weiß.“ […]
„Es ist mein Leben“, sage ich. „Das ist mein ganzes Leben gewesen.“

(Seite 384/385)

Portland, Maine 2017: Vanessa Wye, 32, arbeitet als Concierge in einem Luxushotel und erzählt uns aus ihrem Leben. Besser gesagt: Sie schildert uns ihre Interpretation davon. Ich-Erzähler sind ja nicht immer objektiv. Ob sie tatsächlich so abgebrüht, schlau und verkorkst ist, wie sie sich darstellt, werden wir noch sehen.

Englisch-Lehrer unter Verdacht

Der Anlass für ihre Rückschau: Sie hat gerade erfahren, dass ihr ehemaliger Englischlehrer Jacob Strane (59) von fünf ehemaligen Schülerinnen der se*uellen Übergriffe bezichtigt wird. Eine Journalistin will einen Artikel über die skandalösen Vorgänge in dem Internat schreiben. Nun sind alle möglichen Leute hinter Vanessa her und wollen, dass sie ebenfalls eine Aussage macht. Denn schon im Jahr 2000 war das Gerücht im Umlauf, dass sie ein Verhältnis mit genau diesem Lehrer hätte. Diese Geschichte wurde damals mit höchst zweifelhaften Methoden aus der Welt geschafft: Vanessa musste das Internat verlassen, der Lehrer durfte bleiben.

Vanessa, die immer noch in Kontakt mit Jacob Strane steht, fragt ihn, was an den Vorwürfen dran ist. Er beschwichtigt sie. Ach, was, alles nur Missverständnisse! Sie glaubt ihm nur zu gern, wie sie ihm schon damals nur zu gern geglaubt hat: dass sie seine Lieblingsschülerin sei, etwas ganz Besonderes, so begabt, so erwachsen, seine Seelenverwandte, seine große Liebe … blablabla.

Liebe oder Missbrauch?

Mit solchen Sprüchen hat er sie eingewickelt, als sie 15 war und er 42. Und sie, die etwas nerdige Eigenbrötlerin, die sich nach Aufmerksamkeit und Liebe gesehnt hat, hat sich wertgeschätzt und geschmeichelt gefühlt und sich mit Feuereifer in diese Affäre gestürzt. Bis heute glaubt sie, dass das Liebe war und kein Missbrauchsverhältnis. Nein, sie ist kein Opfer, sie hat geliebt und ist geliebt worden. Sie wollte das alles ebenso wie er und hat freiwillig mitgemacht.

Wirklich? Dass sie das so sehen möchte, ist nachvollziehbar. Sie hat jahrelang in diese Beziehung investiert, hat vieles geopfert und verloren. Da will sie nicht auch noch hören, dass sie benutzt und verar***t worden ist! Doch wenn sie beschreibt, wie sie damals ein Paar geworden sind, sieht man als erwachsene Leserin sehr deutlich, wie der Kerl die Kleine nach allen Regeln der Kunst manipuliert.

Kann sein, dass sie die erste war, bei der er diese Nummer durchgezogen hat, weil bei ihr alles gepasst hat: attraktiv, eifrige Schülerin und sozial isoliert. (Hätte sie ein Rudel geschwätziger Freundinnen um sich geschart, hätte er sich nie an sie herangetraut.) Ihre Eltern würde sie auch nicht ins Vertrauen ziehen, da war Jacob Strane sicher. Er hat die beiden mal bei einer Schulveranstaltung kennengelernt: einfache Leute aus einem kleinen Kaff, für die eine Tochter mit Stipendium und schriftstellerischen Ambitionen sowas wie eine Außerirdische ist. Nein, denen wird Vanessa nichts erzählen! Er hat freie Bahn.

Alles freiwillig. Wirklich?

Das junge Mädchen ist fasziniert davon, dass ein erwachsener Mann und erfahrener Liebhaber sie liebt und begehrt. Die Tricks, mit denen er sie ins Bett kriegt, durchschaut sie nicht. Den Leserinnen ist dagegen klar: Der Teenager fühlt sich nicht bereit, sondern überrumpelt, genötigt und verpflichtet.

Es ist anzunehmen, dass Jacob Strane die Techniken, die bei Vanessa gut funktioniert haben, im Lauf der Jahre perfektioniert und bei anderen Mädchen angewendet hat. Wenn das stimmt: Wird man ihm jetzt endlich das Handwerk legen? Oder schauen wieder alle weg? Wird Vanessa zu seiner Demaskierung beitragen? Dazu müsste sie erst einmal erkennen (wollen), dass sie nicht Stranes große und einzige Liebe war, sondern nur die erste in einer langen Reihe missbrauchter Schulmädchen. Und dass sie Jahre ihres Lebens an einen hebephilen Beutegreifer verschwendet hat. Nichts anderes ist er. Er selbst vergleicht doch ihre Beziehung mit der von Humbert und Lolita aus Vladimir Nabokovs Roman!

Alte Unterlagen tauchen auf …

Wenn Vanessa das klar würde, hätte sie womöglich eine Chance, mit der Geschichte abzuschließen und ein „normales“ Leben zu führen. Therapeutin Ruby gibt sich alle Mühe, doch Vanessa klammert sich eisern an ihre verzerrte Wahrnehmung. Dann tauchen 17 Jahre alte Unterlagen auf, die Jacob Strane selbst in Vanessas Augen in einem anderen Licht erscheinen lassen müssten …

Ich habe vor ein paar Jahren Jennifer Fox‘ verstörenden Film THE TALE gesehen und gedacht, dieses Buch sei vielleicht die literarische Vorlage dazu. Ist es nicht, aber die Geschichten ähneln sich. Im Film und in diesem Roman geht es darum, wie sehr ein Missbrauchsopfer verinnerlicht, was ihm der Täter eingeredet hat – und wie schwer es ist, sich davon wieder zu lösen. Auch nach vielen Jahren noch.

Selbst wenn man die Heldin nicht unbedingt ins Herz schließt, wünscht man ihr doch, dass es ihr gelingen möge, die Ereignisse aus ihrer Vergangenheit aus einer anderen Perspektive zu sehen. Und dass es in der Realität undenkbar wäre, dass man einen Mann wie Jacob Strane 20 Jahre lang unbehelligt gewähren lässt, das wünscht man sich auch. Aber ich fürchte, sowas gibt es öfter, als uns allen lieb ist. Für einen Unterhaltungsroman ist das ziemlich starker Tobak.

Die Autorin

Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert. Ihr Debütroman »Meine dunkle Vanessa« ist ein internationaler Bestseller und stand auch in Deutschland auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Buch ist in rund 25 Ländern erschienen. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.

Die Übersetzerin

Ulrike Thiesmeyer, 1967 geboren, studierte Literatur-Übersetzen in Düsseldorf, wo sie auch bis heute lebt. Sie hat zahlreiche Romane wie Sachbücher aus dem Englischen und Französischen ins Deutsche übertragen. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u. a. William Boyd, Raymond Khoury, Ann Patchett, Kamila Shamsie und Joanna Trollope.

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Rezensentin: Edith Nebel
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