Petra Hucke: Die Architektin von New York. Roman

Petra Hucke: Die Architektin von New York. Roman, München 2021, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-06238-1, Klappenbroschur, 398 Seiten, Format: 13,6 x 3,25 x 20,5 cm, Buch: EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99.

Abb.: (c) Piper Verlag

„Wir reden über die Brücke, aber nicht über uns. Du sagst mir nicht mehr, wie es dir geht. Was du so machst.“
„Was ich mache?“ Sie musste lachen und verschluckte sich fast. „Ich mache deine Arbeit, Washington.“

(Seite 294)

Vor ein paar Jahren habe ich in einer TV-Doku zufällig von Emily Warren Roebling gehört, die in den 1870er-/80er-Jahren anstelle ihres schwer erkrankten Ehemanns als inoffizielle Chefingenieurin den Bau der Brooklyn Bridge abgeschlossen hat. Das war mir völlig neu. Ich habe mich natürlich gefragt, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Von einer Hausfrau und Mutter des 19. Jahrhunderts erwartet man gemeinhin keine Kenntnisse im Brückenbau.

Wenn uns das heute wundert, wie werden dann erst die Menschen vor rund 150 Jahren reagiert haben? Da muss Emilys Arbeit ja unerhört gewesen sein! Petra Hucke bringt mit dieser fiktionalisierten Romanbiographie ein wenig Licht ins Dunkel.

Vieles musste sich die Autorin selbst zusammenreimen, weil zwar die technische Seite des Brückenbaus gut dokumentiert ist, aber keine persönlichen Aufzeichnungen von Emily W. Roebling existieren. Außer einigen Briefen an die Familie gibt’s da nichts (mehr).

Auch wenn Emilys Vorfahren mit der Mayflower ins Land gekommen sind: Sie bildet sich darauf nichts ein. Sie sieht sich als einfaches Mädchen vom Land aus einer kinderreichen Familie. Niemand hat sich je die Zeit genommen oder die Mühe gemacht, sie zu einer typischen jungen Dame zu erziehen. Sie interessiert sich sehr für Naturwissenschaften, besonders für Mathematik. Wenn ihr älterer Bruder GK, ein Ingenieur, von seiner Arbeit erzählt, ist das für sie das Größte. Und sie kann ebenso gut auf den Fingern pfeifen wie ihre Brüder. 😉

Durch GK lernt sie Washington Augustus Roebling, den Sohn des Bauingenieurs John Roebling kennen und lieben. 1865 heiraten sie. Washington, ebenfalls Bauingenieur, kennt die außergewöhnlichen Talente und Interessen seiner Frau und diskutiert von Anfang an seine Bauprojekte mit ihr.

Obwohl Washington nicht mit seinem Vater klarkommt – die Roeblings sind schon ziemlich speziell – arbeitet er für ihn und ringt um seine Anerkennung. Ihr aktuelles Projekt: Eine Brücke über den East River, die die New Yorker Stadtteile Brooklyn und Manhattan miteinander verbinden soll. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten wird das die damals längste Hängebrücke der Welt. Pionierarbeit in jeder Hinsicht!

Als Roebling Senior einen Arbeitsunfall hat und in seiner unglaublichen Sturheit alles besser wissen will als der behandelnde Arzt, hat das fatale Folgen. Nach seinem Tod ist Washington der Chefingenieur. Er ist ebenso ehrgeizig wie gründlich, will jedes Detail im Blick behalten und geht sogar mit seinen Arbeitern in die Caissons. Ein Caisson ist ein unten offener Senkkasten, der für Unterwasserarbeiten eingesetzt wird. Das funktioniert ähnlich wie eine Taucherglocke.

Mit dieser Technologie hat man damals noch nicht viel Erfahrung. Den gesundheitlichen Problemen, unter denen die Arbeiter leiden, hat man nichts entgegenzusetzen, weil man die Zusammenhänge noch nicht versteht. Heute weiß man, dass sie die Dekompressionskrankheit („Taucherkrankheit“) hatten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Washington daran erkrankt. Die Folgen: Lähmungen, Schmerzen, Sehprobleme, Migräne … Er ist lange Zeit bettlägerig und kann seine Arbeit nicht mehr ausüben. Doch sein Amt als „Chefingenieur der East River Bridge“ zur Verfügung zu stellen kommt für ihn nicht in Frage. Also vertuscht die Familie seinen Gesundheitszustand so gut es geht. Er leitet die Baustelle fortan vom Krankenbett aus. Emily und ein paar seiner engsten Mitarbeiter sind für ihn vor Ort und überbringen Nachrichten.

Emily wächst schnell in ihre Aufgabe hinein und muss ihren Mann in vielen Punkten bald nicht mehr um Rat fragen. Sie liebt die Arbeit an „ihrer“ Brücke, auch wenn ihr misogyne Wichtigtuer, Ewiggestrige, korrupte Politiker und gehässige Anverwandte das Leben schwer machen. Es ist nie leicht, seiner Zeit voraus zu sein und aus den herkömmlichen Rollenzuschreibungen auszubrechen.

Die Brücke ist zu einem Wahrzeichen New Yorks geworden und es wurde auch niemand anders für ihre Konstruktion und Errichtung gefeiert als die Roeblings. Es ist also nicht die Frage, ob Emily das Projekt erfolgreich zum Abschluss gebracht hat, sondern wie sie das gegen alle Widerstände geschafft hat. Es hätte ja sein können, dass sämtliche Arbeiter davonrennen, weil sie sich von einer Frau nichts sagen lassen wollen. Das hat sie zu verhindern gewusst. Und ja, so wie die Autorin es beschreibt, könnte es durchaus abgelaufen sein. Oder so ähnlich.

Obwohl ich die TV-Doku mehrfach gesehen habe, habe ich beim Lesen nicht immer gleich verstanden, mit welchen technischen Schwierigkeiten die Brückenbauer gerade kämpften. Wahrscheinlich wäre es für den Fortgang der Handlung gar nicht so wichtig gewesen, alles bis ins Detail nachvollziehen zu können, aber wenn es schon ausführlich geschildert wird, will ich es auch begreifen.

Den Personen gegenüber bin ich ein wenig distanziert geblieben, weil sich die Geschichte eben auf die Abläufe konzentriert hat und weniger auf das Gefühlsleben. Da hat mich das Schicksal von Mac und Miss Fraser emotional mehr berührt als das der Heldin. Vielleicht war Emily W. Roebling ja auch so pragmatisch veranlagt und hat einfach getan, was getan werden musste, ohne groß darüber nachzudenken. Aber okay: Ich wollte ja auch „nur“ eine Vorstellung davon bekommen, wie Emily in diese Situation geraten und sich dort auch noch behaupten konnte. Und die habe ich jetzt.

Gestutzt habe ich über Emilys Wortspiele mit dem „Wash-Bär“. Das funktioniert doch im Englischen gar nicht, da heißt das Tier „raccoon“! Bis mir dämmerte: Roeblings waren Auswanderer aus Thüringen, die daheim noch Deutsch gesprochen haben. Und es wird mehrfach erwähnt, dass Emily die Sprache ihrer Schwiegerfamilie so weit beherrscht hat, dass sie sich mit der Verwandtschaft und den deutschsprachigen Arbeitern auf der Baustelle verständigen konnte. Irgendwer wird ihr mal gesagt haben, wie das Tier auf Deutsch heißt, und so kam ihr Gatte zu seinem Spitznamen.

Emily W. Roebling muss schon eine tolle Frau gewesen sein! Sie verstand was von Mathe, vom Brückenbauen sowie von Fremdsprachen und kannte sich gut in der Krankenpflege aus. Sie ist viel gereist und hat 1899, mit 56 Jahren, sogar noch einen Jura-Abschluss der New York University gemacht! Und solche ungewöhnlichen Lebensgeschichten lese ich sehr gern.

Petra Hucke ist Autorin historischer und zeitgenössischer Romane. Sie veröffentlicht auch unter dem Namen Mara Konrad. Außerdem ist sie Übersetzerin für die englische und französische Sprache, Lektorin und Host des Podcasts „Frauenleben“ über inspirierende Frauen und ihre Zeit. Sie lebt in München.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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