Lisa Roy: Keine gute Geschichte. Roman, Hamburg 2023, Rowohlt Verlag GmbH, ISBN 978-3-498-00345-6, Hardcover mit Lesebändchen, 236 Seiten, Format: 13,1 x 2,35 x 21 cm, Buch: EUR 22,00 (D), EUR 22,70 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Ich hab was mit Jessy, der Mutter von Ashanti“, sagte Meryem und schaute in ihren Cappuccino.
(Seite 121)
„Perfekt. Ich hab was mit Ashantis Vater. Wir sind quasi verschwägert“, sagte ich und zog das weiße Hallhuber-Shirt aus einer der Taschen.
Essen-Katernberg: Arielle Freytag, 33, ist in diesem prekären Stadtteil aufgewachsen. Vor 12 Jahren war sie zuletzt hier. Sie hat’s herausgeschafft, hat studiert und arbeitet erfolgreich als Social-Media-Managerin in einer Düsseldorfer Werbeagentur.
Der Anruf der Essener Sozialarbeitern Meryem ereilt sie in einem Moment der Schwäche: Sie war gerade erst in einer psychiatrischen Klinik, wo man sie wegen einer Depression behandelt hat. Noch ist sie nicht wieder in ihrem Agenturalltag angekommen, und so hat sie Meryems Bitte, sich um ihre Großmutter zu kümmern, die nach einem Reha-Aufenthalt Hilfe braucht, nichts entgegenzusetzen. Ihr fällt auf die Schnelle einfach keine Ausrede ein.
Zurück in Essen-Katernberg
Nie mehr hatte Arielle an den Ort zurückkehren wollen, an dem sie aufgewachsen ist, und jetzt steht sie doch wieder in der düsteren, überladenen Wohnung ihrer exzentrischen Hippie-Oma Varuna, die Kakteen züchtet, N*cktkatzen hält und hässliches Geschirr töpfert. Und sie muss sich irgendwann komplett neu erfunden haben. Nicht einmal der göttliche indische Vorname ist echt.
Vor 27 Jahren ist Varunas einzige Tochter Rita (24) von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Notgedrungen hat sie ihre damals sechsjährige Enkelin Arielle aufgenommen und großgezogen. Viel Liebe gab es bei Varuna nicht, die hat sich das Mädchen anderswo gesucht. Und sie hat sich schnellstmöglich aus dieser Umgebung abgesetzt.
Jetzt ist Arielle also wieder da und schildert, was nun passiert. Besonders sympathisch wirkt die Ich-Erzählerin nicht. Ihre gnadenlose Ehrlichkeit hat aggressive Züge. Das ist die Art von Leuten, um die ich im realen Leben einen großen Bogen mache.
Am Anfang habe ich mich gefragt, wieso Arielle mit mir als Leserin wie mit einer Komplizin spricht, so als müsste ich mich an ihre Kindheit und die Leute in ihrem Viertel erinnern. Ich wusste bis zu diesem Buch nicht einmal, dass es einen Stadtteil namens Katernberg gibt! Irgendwann wurde mir klar, dass ihr „Du“ gar nicht mir gilt, sondern ihrer verschollenen Mutter. Ihr erzählt sie das alles.
Nichts hat sich verändert
Bei Oma daheim hat sich nicht viel verändert, im Viertel auch nicht. Arielle sieht Kindheitsfreundinnen wieder, die nie aus dieser Umgebung herausgekommen sind und gruselt sich bei der Vorstellung, so leben zu müssen wie sie. Da hat sie es doch viel besser! Melanie, eine ehemalige Schulkameradin, sieht zwischen ihnen beiden keinen großen Unterschied und findet:
„Man kann das Mädchen aus der Gosse holen, aber nicht die Gosse aus dem Mädchen.“
(Seite 20)
Das sitzt!
Zwei Kinder werden vermisst
Warum gibt sich Arielle überhaupt mit Leuten aus ihrer Vergangenheit ab, wenn sie doch gar nichts mit ihnen zu tun haben will? Hauptsächlich deshalb, weil sie Melanies und Jessys Schicksal an ihr eigenes erinnert. Bei Arielle war’s die Mutter, die verschwunden ist, bei ihren ehemaligen Mitschülerinnen sind’s die neunjährigen Töchter Lara und Ashanti, die vor ein paar Tagen nach der Schule nicht nach Hause gekommen sind.
Arielle hofft zwar, dass sich die zwei auf der Suche nach einem besseren Leben davongemacht haben, aber bei Neunjährigen ist leider eher zu vermuten, dass ihnen etwas Schreckliches zugestoßen ist. Sie schließt sich einer privaten Suchaktion an und lässt sich auf eine Affäre mit Ashantis Vater, dem attraktiven Jamaikanischen Koch John, ein.
Was weiß Wolfgang über Arielles verschollene Mutter?
Im Rahmen der Suchaktion trifft Arielle auch Wolfgang Becker, einen ihrer ehemaligen Lehrer, wieder. Der quasselt ziemlich viel und macht irgendwann eine Bemerkung, die sie aufhorchen lässt. Weiß er etwa mehr über den Verbleib ihrer Mutter als er bislang zu erkennen gegeben hat?
Und noch etwas gibt ihr zu denken: Wurden bei Ritas Verschwinden eigentlich auch solche Suchaktionen veranstaltet wie jetzt bei den vermissten Kindern? Sie kann sich an nichts dergleichen erinnern. Es ist, als hätte man damals einfach schulterzuckend akzeptiert, dass die junge Mutter nicht mehr da war. Arielle ist heute noch überzeugt davon, dass Rita niemals freiwillig weggegangen wäre, ohne sie mitzunehmen.
Wenn Wolfgang Becker mehr weiß, als er sagt, gilt das dann auch für andere Menschen aus ihrem gemeinsamen Umfeld? Besteht tatsächlich die Chance, den Vermisstenfall nach all den Jahren noch aufzuklären?
Doch eine gute Geschichte. Nur nicht für alle
Man muss die Heldin nicht mögen, um die Geschichte mitreißend zu finden und Arielles Besessenheit vom Thema „vermisste Personen“ nachvollziehen zu können. Und wie die Autorin das Verhalten und die Motive ihrer Figuren seziert, ist eindrucksvoll.
Auch wenn der Buchtitel etwas anderes behauptet: Das ist eine gute Geschichte! Nur eben nicht für alle Beteiligten. Elend scheint hier tatsächlich erblich zu sein, und die Chance, dem Milieu und den alten Mustern zu entkommen, ist offenbar verschwindend gering. Der Roman ist keine Milieustudie, die auf die handelnden Personen herabsieht. Es ist in meinen Augen ein Gesellschaftsroman mit einem Hauch von Krimi. Ein düsterer Plot erzählt mit-trockenem Humor.
Die Autorin
Lisa Roy wurde 1990 in Leipzig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie studierte in Dortmundund Köln und veröffentlichte in verschiedene Literaturzeitschriften und Anthologien. Für die Arbeit an ihrem ersten Roman KEINE GUTE GESCHICHTEerhielt sie 2021 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und den GWK-Förderpreis Literatur. Lisa Roy lebt mit ihrer Familie in Köln.
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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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