Emma Holten: Unter Wert. Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt, OT: Underskud – Om værdien af omsorg, aus dem Dänischen von Marieke Heimburger, München 2025, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28464-6, Hardcover, 287 Seiten, Format: 13 x 2,3 x 20,8 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 18,99.

Der historischen Abwertung von Fürsorge liegt eine ganze Reihe von Annahmen zugrunde:
- Ökonomen erforschen Werte, und darum muss man den genauen Wert kennen.
- Wert bemisst sich am Marktpreis, weil der die einzige konkrete Zahl ist, die wir haben.
- Wenn etwas nicht bepreist werden kann, kann es auch nicht quantifiziert werden.
- Alles, was nicht quantifiziert werden kann, gilt als Ausgabe.
- Die Wertlosigkeit von Fürsorge und Ausbildung wirkt wissenschaftlich fundiert und unpolitisch. (Seite 209/210)
Frauen sind für den Staat ein Verlustgeschäft? – Im Ernst?
„Frauen sind […] ein Verlustgeschäft für die Staatskasse“, liest die Autorin in der Zeitung und „Eine Frau kostet die Gesellschaft im Laufe ihres Lebens 12 Millionen [dänische] Kronen.“ Ja, hallo, denkt sie, jetzt geht’s aber los! Was, bitte, sollen wir jetzt tun?! Frauen abschaffen?
Wie kommt man überhaupt auf die Idee, bei Menschen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzumachen? Wie bemisst sich der Wert eines Individuums und wer hat diesen zu bestimmen? Ökonomen legen so etwas fest. Und es ist alles eine Frage der Perspektive.
Wird schon stimmen, was die Wirtschaftswissenschaftler sagen, habe ich immer gedacht. Die Betriebswirtschaftslehre mit ihren Formeln und Definitionen kam mir während meiner Ausbildung stets logisch und zwingend vor – und nicht so, als gäbe es Spielraum für Diskussionen.
Ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit?
Solange man sich mit der Produktion und dem Vertrieb von Waren beschäftigt, scheint auch alles zu passen, doch Wirtschaft – und Gesellschaft — umfassen noch mehr als nur den Warenverkehr. Also bilden die Theorien und Modelle vielleicht die Wirtschaft gar nicht vollständig ab? Und kommt dadurch womöglich ein verzerrtes Bild zustande, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt? Der Verdacht liegt nahe.
Sicherheit und Planbarkeit erzielt man vor allem dann, wenn man mit Zahlen arbeitet. Deshalb hat man in den 1870er Jahren, als man die Ökonomie zu einer Naturwissenschaft machen wollte, sich die Mathematik und die Mechanik zum Vorbild genommen. Die Menschen und ihr Verhalten wurden in Formeln gefasst. Das kann man machen, ist aber fehleranfällig, weil der Mensch nicht immer tut, was eine Formel will.
Nicht alles kann man in Zahlen pressen
Nicht alles kann man in Zahlen pressen. Was ist mit Tätigkeiten, die zwar getan werden müssen, die aber nicht ohne weiteres mit einem Preisschild zu versehen sind? Hausarbeit, Pflege, Besorgungen, Kinderbetreuung … Reproduktion und Fürsorge passen nicht so recht ins System. Also haben die Ökonomen diesen Bereich ausgeklammert und für privat, gottgegeben und vernachlässigbar erklärt. Das sei alles keine produktive Arbeit und habe nichts mit Wirtschaft zu tun. Wird ja sowieso meist von Frauen gratis und aus Liebe erledigt.
Ah ja! Es gibt also einen öffentlichen, wertschöpfenden und systematischen Bereich und im Gegensatz dazu einen privaten, wertlosen und emotionalen. Fürsorgearbeit hat keinen Wert. Und wir sollen glauben, dass die Feststellung dieser Werte eine präzise Wissenschaft sei, unpolitisch und nicht debattierbar.
Jetzt könnte man schulterzuckend sagen: Wen juckt’s, was so ein paar olle Theoretiker meinen? Uns alle! Die meinen das ja nicht im luftleeren Raum. Das hat Auswirkungen!
Nicht messbar? Einfach ignorieren!
Nicht nur, dass unbezahlte Fürsorgearbeit nicht gesehen wird – sie wird auch bei der Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht mitgerechnet, weil man schlicht nicht weiß wie sie zu beziffern wäre.
„Das BIP misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Rechnungsperiode […] von Personen, Unternehmen und dem Staat mit Geld gekauft wurden.“
(Seite 112)
Wozu braucht man das? Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP entscheidet zum Beispiel darüber, ob ein Land auf dem Finanzmarkt als stabil gilt, zu welchen Konditionen es sich Geld leihen kann und was es in internationalen Organisationen zu sagen hat.
Wenn Politiker sagen, etwas schaffe Wachstum – oder schade diesem – so beziehen sie sich auf das BIP. Der private Fürsorgebereich spielt in diesen Berechnungen, wie gesagt, keine Rolle, was auch auf professionell erbrachte Fürsorgeleistungen (Bildung, Pflege) abzufärben scheint. Die sind da auch nicht viel wert. Fun fact: Forschung, Entwicklung, Prostitution, Drogenschmuggel und Waffenhandel werden bei der Berechnung des BIP berücksichtigt.
Waffen sind eine Investition, Fürsorge ist eine Ausgabe
„Die EU-Gesetzgebung erlaubt es, gegen die Kreditvorgaben zu verstoßen, wenn mit dem Geld Brücken gebaut oder Waffen gekauft werden […]. Hingegen ist es nicht erlaubt, die Defizitgrenze zu überschreiten, um von dem Geld Pflegepersonal, Lehrkräfte oder Ärzt:innen besser zu bezahlen. […] Anders gesagt: Waffen sind eine Investition, Fürsorge ist eine Ausgabe. Sowohl die Pflege von Menschen als auch die Pflege und der Erhalt unberührter Natur […] sind im BIP-Kontext wertlos“
(Seite 120)
Und was wäre die Lösung, um Fürsorgearbeit einen angemessenen Wert zu geben? Ein Hausfrauengehalt, wie manche es fordern? Wer sollte das bezahlen? Die Kinder, die man aufzieht? Der Partner? Der Staat? Hmm … schwierig.
Oder sollten die Frauen ihre unbezahlte Fürsorgearbeit einstellen und nur noch produktiv tätig sein? Würde die Gesellschaft das, was sie sonst immer außerhalb des Arbeitsmarktes geleistet haben, überhaupt vermissen? Wären wir wirklich reicher, wenn die Frauen ihre unbezahlte häusliche Arbeit niederlegten?
Wer soll die Arbeit dann machen?
Und wenn sich diese Tätigkeiten doch als notwendig herausstellen würden, wer sollte diese Arbeit dann machen? Man müsste das entweder gut bezahlen, damit sich jemand findet, oder man muss Arbeitskräfte aus dem Ausland anheuern, die das dann billig erledigen. Und das wäre dann wieder Ausbeutung. Es ist nämlich mitnichten so, dass alle Menschen freiwillig Verträge eingehen. Es gibt durchaus Notlagen und Sachzwänge.
Es ist ein Elend! Menschliche Fürsorge passt einfach nicht in ein mechanistisches Weltbild! Wenn sie sich nun mal partout nicht vermeiden lässt, soll sie wenigstens nichts kosten. Und so spart man eifrig an Erziehung, Bildung und im Gesundheitswesen. Was nicht die allerbeste Idee ist:
„Die Wirtschaft braucht permanent neue, gut funktionierende, gesunde, ausgeglichene Arbeitskräfte, aber die Zeit, die aufgewendet werden muss, um genau diese hervorzubringen, wird in allen wirtschaftlichen Bereichen als Verlust verbucht.“
(Seite 139)
Keine Patentlösung, aber ein Zuwachs an Wissen
Eine Patentlösung hat die Autorin zu ihrem Bedauern auch nicht. Wäre schön, wenn uns jemand sagen könnte, wie’s besser geht. Aber es ist schon mal gut, wenn man sieht, wie das System funktioniert.
Ich bin, wie gesagt, nicht vom Fach. Den Inhalt des Buchs kann ich deshalb nur sehr verkürzt wiedergeben. Ich fand Emma Holtens Ausführungen hochinteressant, habe mir jede Menge erhellender Textstellen angestrichen, und bilde mir zumindest ein, manche Zusammenhänge nun besser zu verstehen.
Die Autorin
Emma Holten, geboren 1991, ist Mitglied des Sachverständigenforums des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen und des Beratungsausschusses für Frauenrechte von Human Rights Watch. Sie beschäftigt sich in diesen Funktionen vor allem mit Fragen der feministischen Ökonomie. Seit 2023 berät sie die dänische Regierung im Untersuchungsausschuss zu Machtverhältnissen in Dänemark. Sie trat außerdem als Rednerin bei der UNO auf. Emma Holten lebt in Kopenhagen.
Die Übersetzerin
Marieke Heimburger übersetzt seit 1997 englisch- und dänischsprachige Sachbücher, Belletristik, Kinder- und Jugendbücher. Sie ist mehrfach vom Übersetzerfonds und von der Dänischen Kulturstiftung gefördert und auch ausgezeichnet worden.
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Rezensentin: Edith Nebel
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