Felicitas Fuchs: Die Akte Schneeweiß. Roman, München 2025, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-42904-8, Klappenbroschur, 415 Seiten, Format: 13,6 x 3,6 x 20,7 cm, Buch: EUR 16,00 (D) EUR 16,50 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Es ist gut, dass ihr jungen Leute nicht wisst, wer heutzutage immer noch ordentlich Dreck am Stecken hat. Die sitzen überall, Kind, überall.“
(Seite 298)
Familiengeheimnisse!
Wenn mir ein Buch Familiengeheimnisse verheißt, bin ich sofort dabei! Und Geheimnisse hat die Familie Schneeweiß/Schilling in diesem Roman reichlich! Alles beginnt damit, dass in den 1930er-Jahren die Geschwister Schneeweiß – er Eisenbahner und Sanitäter, sie Hausangestellte – in Vorgänge hineingeraten, deren Folgen sie nicht überblicken können und die Auswirkungen bis in die Enkel-Generation haben. Auch wenn die Enkel von diesem Teil der Familiengeschichte zunächst gar nichts wissen.
Bielefeld, 1936: Mathilde Schneeweiß, 25, arbeitet als Hausangestellte für die Familie Zimmermann. Sie hilft auch in deren Drogerie aus und lernt dort, wie man Fotos entwickelt. Außer ihrem deutlich älteren Bruder Rudolf hat sie keine Angehörigen mehr. Sie betrachtet die Zimmermanns als ihre Familie. Und so, wie ihr Leben jetzt ist, könnte es bleiben. Tut es aber nicht.
Mathilde macht sich erpressbar
Frau Zimmermann ist Jüdin, die Familie emigriert in die USA. Vorher vermittelt ihr Chef Mathilde noch als angelernte Sprechstundenhilfe an einen befreundeten Gynäkologen: Wiegald Bönisch. Der merkt schnell, dass die junge Frau ein heller Kopf ist und ein kritischer Geist, genau wie er. Bönisch und Mathilde helfen auch in Fällen, in denen sie nicht (mehr) helfen dürfen. Das macht sie erpressbar.
1939 gerät Mathilde Schneeweiß in die Fänge der Gestapo. In einer beklemmenden Szene schildert die Autorin, wie man die junge Frau dort bedroht und in die Enge treibt, bis ihr klar wird, dass ihr Leben und das ihres Bruders in Gefahr ist, wenn sie nicht tut, was die Männer von ihr verlangen: Fotos entwickeln für die Gestapo und darüber eisernes Stillschweigen bewahren.
Zeugin und Mitwisserin
Das klingt harmlos, doch was Mathilde auf den Bildern zu sehen bekommt, ist es nicht. Man kann sich vorstellen, was die damals alles dokumentiert haben! Wahrscheinlich wäre es gescheiter gewesen, eine linientreue Person mit dieser heiklen Aufgabe zu betrauen und keine eingeschüchterte Regime-Skeptikerin. Doch dass Gewalt nicht immer die beste Lösung ist, kommt den Verantwortlichen gar nicht in den Sinn. Mathilde jedenfalls hält es nicht aus, Zeugin und Mitwisserin all der Ungeheuerlichkeiten zu sein, die sie auf den Fotos sieht, und zieht ihren Bruder ins Vertrauen. Der handelt …
Nach dem Krieg geht der Albtraum weiter
Nach dem Krieg ist der Albtraum noch lange nicht vorbei. Die N*zis haben sich ja nicht in Luft aufgelöst, sie sitzen immer noch an den Schaltstellen der Macht. Und zumindest einer von ihnen hat Rudolf Schneeweiß noch auf dem Schirm. Als dieser ihm nützlich wäre, setzt er ihn unter Druck. Und Rudolf – aus Angst, aus Eigennutz, aus einem Gefühl der Schuld heraus und weil er auf einer Art privatem Kreuzzug ist, – gibt nach und tut wie von ihm verlangt.
Bielefeld, Anfang der 1960er-Jahre: Im September 1963 verschwindet Rudolf Schneeweiß spurlos und sein Name darf in der Familie nicht mehr genannt werden. Die Erwachsenen wissen oder können sich zumindest zusammenreimen, was mit ihm geschehen ist. Seine Enkelinnen Katja (14) und Heidi (8) verstehen die Welt nicht mehr. Sie haben ihren „Opa Dom“ geliebt.
Opa ist verschwunden – keinen interessiert’s!
Katja trifft der Verlust besonders hart. Der Opa war eine wichtige Bezugsperson für sie. Er hat sie verstanden und unterstützt, auch in ihrem Wunsch, Ärztin zu werden. Für den Rest der Familie kommt das überhaupt nicht in Frage. Abitur! Studieren! Sonst noch was? Nicht einmal den Beruf der Krankenschwester wollen sie sie erlernen lassen. Katja pfeift auf die Einwände, verlässt mit 16 ihr Elternhaus und zieht ihr Programm durch: Ausbildung, Abi auf dem zweiten Bildungsweg, Studium. Opa Dom wäre stolz auf sie!
Sie hat auch nie aufgehört, nach ihrem Großvater zu suchen. Schon 1965 hat sie einen Hinweis darauf erhalten, dass er noch lebt. Doch die Familie mauert noch immer. Erst Mitte der 70er-Jahre, nach dem Tod von Rudolfs Frau, kommt die ganze Geschichte ans Licht. Dabei fällt auch der Name Mathilde Schneeweiß. Von der Existenz einer Großtante haben Katja und Heidi bis dato nichts gewusst.
In den 70ern kommt alles ans Licht
Die beiden Schwestern können gar nicht glauben, was sie jetzt hören. Das passt alles gar nicht zu ihrem liebenswerten Opa Dom, der in seiner Kellerwerkstatt Streichholzhäuschen gebastelt hat. So spießig und beschaulich wie in den 1960er Jahren ist sein Leben anscheinend nicht immer gewesen.
„Ich verstehe nicht. Wir reden von meinem Großvater, Rudolf Schneeweiß aus Brackwede, dem Eisenbahner mit dem amputierten Unterschenkel?“
(Seite 353)
„Ja, von dem reden wir.“
Erst jetzt ergeben viele Andeutungen und Reaktionen für die Enkelinnen einen Sinn! Und noch etwas wird klar: Auch wenn man Rudolf und Mathilde über Jahre hinweg totgeschwiegen hat – ihr Leben hat das der nachfolgenden Generationen beeinflusst. Und ja, durchaus konkret und positiv!
Eine atemberaubende Reise durch die Zeit
Wenn man dieses Buch zu lesen beginnt, sollte man besser nichts anderes vorhaben! Felicitas Fuchs nimmt uns mit auf eine atemberaubende Reise durch die Zeit. Die Handlung springt zwischen den Kriegsjahren , den 60ern und 70er hin und her. Die Kapitelüberschriften machen aber stets deutlich, wo und wann in der Geschichte wir uns gerade befinden.
Ich musste mir nur immer wieder in Erinnerung rufen, dass der „Opa Dom“ der Schilling-Schwestern der Rudolf aus den Kriegsjahren ist. Ich habe seinen Spitznamen, der vom Kölner Dom abgeleitet wurde, immer als „Domm“ gelesen und im Geist zu „Dominic“ ergänzt. Obwohl Rudolfs persönliche Entwicklung folgerichtig und nachvollziehbar beschrieben wird, ist es mir dadurch schwergefallen, seine Kriegs- und Nachkriegspersönlichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Da ging’s mir genau wie seinen verblüfften Enkelinnen. Vielleicht war das ja Absicht.
Wechselbad der Gefühle
Die Zeitsprünge bescheren uns ein Wechselbad der Gefühle. Da die Gräueltaten der N*zizeit, dort die Aufbruchsstimmung der Wirtschaftswunderjahre, hier die folgenschweren Entscheidungen der Schneeweiß-Geschwister, dort Katjas unbeirrbare Entschlossenheit und die impulsiv-naiven Aktionen der lebensfrohen Heidi, die oft pfeilgerade in die Katastrophe führen. „Nichts bleibt, wie es ist“ – dieser Satz fällt in dieser Geschichte öfter. Zum Glück gilt das auch für schlechte Zeiten.
Wer in den 60er- und 70er-Jahren jung gewesen ist, wird hier, neben all der Spannung und Tragik, auch sehr amüsante Rückblicke erleben. Die Mode, das Essen, die Einrichtung, so manch ein heiß diskutiertes Thema, das ist alles sofort wieder da! Und bei Heikes Discobesuchen springt im Kopf der komplette Soundtrack an.
Rundum gelungenes Lese-Erlebnis
DIE AKTE SCHNEEWEISS, basierend auf wahren Begebenheiten und, wie immer bei Felicitas Fuchs, penibel recherchiert, ist meines Erachtens ein rundum gelungenes Lese-Erlebnis. Von Freud bis Leid ist hier das pralle Leben drin. Und wenn „Geschichte“ Namen und Gesichter bekommt, bleibt beim Leser auch was hängen. 😉
Die Autorin
Felicitas Fuchs ist das Pseudonym der Erfolgsautorin Carla Berling, die sich mit Krimis, Komödien und temperamentvollen Lesungen ein großes Publikum erobert hat. Schon bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie als Reporterin und Pressefotografin immer sehr nah an den Menschen und ihren Schicksalen. Für ihre historischen Familienromane lässt sie sich gern von Geschichten aus dem wahren Leben inspirieren. Mit ihrer Mütter-Trilogie gelang ihr auf Anhieb ein SPIEGEL-Bestsellererfolg.
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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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