Prof. Dr. Dirk Brockmann: Survival of the Nettest. Wie die Natur durch Kooperation unsere Welt gestaltet, München 2025, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28465-3, Hardcover mit Schutzumschlag, 287 Seiten mit zahlreichen s/w-Illustrationen, Format: 15,1 x 3,4 x 22,2 cm, Buch: EUR 24,00, Kindle: EUR 19,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Die Evolutions- und Mikrobiologin Lynn Margulis […] schrieb einmal: ‚Das Leben eroberte den Erdball nicht durch Kampf, sondern durch Netzwerke.‘“
(Seite 39)
Das Buch richtet sich an interessierte Laien. Es ist aufschlussreich, sehr unterhaltsam geschrieben und mit gewollt amateurhaft wirkenden Zeichnungen aussagekräftig illustriert. Mein Wissen aus Biologieunterricht und populärwissenschaftlichen Publikationen hat jedoch nicht immer ausgereicht. Vor allem in der ersten Hälfte des Buchs, in der es um verschiedene Zellen und deren Innenleben geht, war ich manchmal von den Details überfordert.
Zusammenarbeit statt „Survival of the Bullies“
Was ich verstanden habe: Allein mit dem Konzept „Survival of the Fittest“ – also, „Wer am besten angepasst ist, überlebt“, lässt sich Artenvielfalt nur unzureichend erklären. Denn da müsste doch die optimal angepasste Lebensform alle Konkurrenten gnadenlos verdrängen, oder? Das wäre Survival of the Bullies. So ist es aber nicht. Gerade in Lebensräumen mit knappen Ressourcen ist die Artenvielfalt mitunter besonders groß. Es muss also noch andere Mechanismen geben, als nur die Konkurrenz auszuschalten. Die gibt es in der Tat: Deals, Kooperationen, „gegenseitig günstige Geschäfte“ … 😊
In der Natur heißt das „Symbiose“: Zwei oder mehrere Partner tun sich zusammen, jeder liefert, was der andere braucht und bekommt im Austausch etwas, das er selbst benötigt. (Wenn nur ein Partner den Nutzen hat und der andere nix kriegt, ist das Parasitismus.) Wie gut, dass schon die Prokaryoten, die ersten biologischen Zellen vor ein paar Milliarden Jahren, die Vorteile der Zusammenarbeit „erkannt“ haben, sonst gäbe es heute weder Tiere, Pflanzen, noch Pilze, sondern bloß jede Menge Einzeller.
Und wie muss man sich so eine frühe Kooperation vorstellen? Zum Beispiel so: Bakterien (ohne Zellkern) haben die Photosynthese „erfunden“ und wurden von komplexeren Einzellern (mit Zellkern) absorbiert. Diese nahmen die entsprechenden Gene in ihr Erbgut auf und konnten fürderhin selbst photosynthetisieren. Dieser Tatsache verdankt unser Planet – auch wenn ich hier ein paar Entwicklungsschritte ausgelassen habe – seine Sauerstoffatmosphäre. Ach ja: Unsere Zellkerne und die Mitochondrien sind offenbar viralen Ursprungs!
Anpassungsfähig dank Mikroorganismen
„Holobiont“ nennt man die Gesamtheit des Wirtsorganismus und seiner Symbionten. Alle Tiere und Pflanzen sind Wirte zahlreicher Konsortien von Mikroorganismen. Wir Menschen auch. (Über das Mikrobiom des Darms hört und liest man ja öfter was.) Die Mikroorganismen werden, wie Gene, an die Nachkommen vererbt. Vorteile? Viele! Unter anderem kann sich ein Holobiont durch Veränderung in der Zusammensetzung seiner Mikroorganismen schneller an veränderte Umweltbedingungen anpassen als ein Organismus ohne mikrobiologische Partner. – Dass das Mikrobiom sogar Einfluss auf das Verhalten seines Wirtsorganismus hat, hat mich denn doch überrascht.
Weil es bei der Symbiose praktisch freie Partnerwahl gibt, führt das zu „unendlicher Vielfalt in unendlichen Kombinationen“. Dieses STAR-TREK-Zitat findet sich gleich auf Seite 11.
Bakterien sind also nicht nur böse Krankheitserreger – das ist nur ein Bruchteil von ihnen -, sie bewirken auch sehr viel Positives. Dasselbe gilt für Viren.
Was wir Viren und Bakterien zu verdanken haben
„Ohne Viren würden Biotope zusammenbrechen, es käme weltweit zu Massenaussterben, starken Schwankungen in der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Viren stabilisieren […] praktisch alle Ökosysteme, ohne sie würde das gesamte Weltklima schlagartig kippen.“
(Seite 88)
Und ohne Retroviren, die ihr Genom in das Genom der Wirtszelle einbauen können, hätte sich die Plazenta (und damit die Säugetiere) nie entwickeln können. Auch ein wichtiger Baustein bei der Kodierung von Erinnerungen ist retroviralen Ursprungs. Wir verdanken den Viren also eine ganze Menge!
In der graphischen Darstellung auf Seite 92 hat sich der Autor übrigens keinen Scherz erlaubt. Es gibt tatsächlich ein Virus namens Rudi!
Eine geklaute Solaranlage und gärtnernde Ameisen
Der Autor nimmt uns auch mit in den „Zirkus der Symbiosen“. Da geht’s zum Beispiel um eine Wasserschnecke, die ihrer Nahrung, einer Algenart, kurzerhand die Chloroplasten klaut und diese in ihr Zellinneres einbaut. Damit kann sie sich von Photosynthese ernähren und muss nicht mehr fressen. Ein Plattwurm beherrscht ein ähnliches Kunststück: Er nimmt Algen auf, die in seinem Körper munter weiter Photosynthese betreiben. Sobald er sich genügend von denen einverleibt hat, verliert er Mund, Anus und Verdauungstrakt. Die Algen haben Schutz und der Wurm immer Nahrung.
Wir begegnen Molchen, die mit Algen in Symbiose leben und Korallen, die von ihren Symbiosepartnern vollkommen abhängig sind. Wir lernen „Würmer aus der Hölle“ kennen, die mit Schwefelbakterien kooperieren, treffen auf gärtnernde Ameisen und Faultiere mit Algen und Motten im Fell. Aus Gründen. Und wir erkennen, dass der „Baum des Lebens“ eher einem Makramee-Geflecht gleicht. Das Symbiose-Ding macht die Sache kompliziert.
Ferner erfahren wir, wie und warum die Natur den S*x erfunden hat und sehen, dass es in freier Wildbahn tatsächlich mehr gibt als Männchen und Weibchen: Tiere, die nach Bedarf ihr Geschlecht wechseln und solche, die von Haus aus Hermaphroditen sind. Es gibt einen Pilz, der über 23.000 Geschlechter hat und Jungfernzeugung gibt’s auch. Sogar bei Wirbeltieren!
Koordinierte Arbeitsteilung
Wie sich der Übergang von Einzellern zu kollektiven Organismen entwickelt haben könnte, zeigt uns der Autor am Beispiel eines Schleimpilzes mit dem Spitznamen „Dicty“. Man kann es sich bildlich vorstellen: „He, Leute, Futter ist alle! Alle Einzeller sammeln zum Weiterkriechen!“ 😊 Es gibt noch viele faszinierende Beispiele und man ahnt, warum die Natur so einen Aufwand betrieben hat.
Eine andere Art der koordinierten Arbeitsteilung findet man in den eusozialen Gesellschaften, sprich, bei staatenbildenden Tieren wie Bienen, Ameisen, Termiten und den Nacktmullen. Bei denen scheint das schon sehr lange sehr gut zu funktionieren.
Pilze sind begnadete Netzwerker. Vom „Wood Wide Web“ hört man öfter: Bäume, die unterirdisch mit Pilzmyzelen und dadurch auch mit anderen Bäumen verbunden sind. Sie teilen Nährstoffe, wehren Schädlinge ab und übermitteln Nachrichten. Dass Pilze auch eine „dunkle Seite“ haben, zeigt uns der Autor ebenfalls.
Im letzten Kapitel geht es um Nervenzellen. Die Entwicklung der elektrischen Signalübertragung bot auf einmal ungeahnte Möglichkeiten: Schnelle Informationsübermittlung, Interaktion zwischen Individuen, Sprache …
Kooperation und Diversität
„Die Probleme und Krisen unserer Zeit lassen sich nicht mehr durch graduelle Optimierung oder mit etablierten Rezepten lösen. Wir brauchen Innovation. Aber diese lässt sich nicht durch das klassische Mantra ‚Innovation durch Wettbewerb‘ herbeiorakeln. Wenn wir die Natur als Lehrmeisterin akzeptieren, müssen wir auf Kooperation und Diversität setzen.“
(Seite 18)
Jetzt wissen wir also, dass die Natur von Symbiosen dominiert wird und diese die Hauptursache für biologische Innovationen sind. Da könnte man schon auf die Idee kommen, dass kooperative Kräfte auch in der menschlichen Gesellschaft von Vorteil wären. Da ist was dran, doch so reibungslos wie im Tierreich läuft das beim Homo sapiens nicht. Wenn sich schon in der Gruppe der Wissenschaftler, die sich mit diesem Themenkreis beschäftigen, so viele egozentrische Stinkstiefel tummeln, wie die ersten paar Buchkapitel vermuten lassen, habe ich diesbezüglich auch wenig Hoffnung. Ich fürchte, da hilft uns auch keine Symbiose, da bräuchten wir ein Wunder.
Der Autor
Dirk Brockmann, geboren 1969, ist Gründungsdirektor des Zentrums Synergy of Systems der Technischen Universität Dresden. Zuvor lehrte er in den USA und war dann Professor am Institut für Biologie der Berliner Humboldt Universität. Nach dem Studium der theoretischen Physik und Mathematik hat er sich früh mit komplexen Phänomenen außerhalb der traditionellen Grenzen der Physik beschäftigt. Besonders interessieren ihn Strukturen und Prozesse in komplexen biologischen und sozialen Netzwerken.
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Rezensentin: Edith Nebel
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