Gina Mayer: Der Kuckuck. Roman, München 2025, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-07337-0, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 426 Seiten, Format: 12,8 x 3,8 x 21 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 18,99.

„Anna erzählte von dem Dorf im Ries. Von den drei Freundinnen, die dort aufgewachsen waren. […] Die Reiche und die Verachtete waren weggegangen, die Ruhige war geblieben und hatte Kinder bekommen. […] Doch dann hatte ihr eine der Freundinnen den kleinen Kaspar vor die Tür gelegt, so wie ein Kuckucksweibchen ihr Ei in das Nest eines anderen Vogels legt.“
(Seite 294)
Die Geschichte spielt hauptsächlich in einem Dorf im Nördlinger Ries, einem Gebiet zwischen der Schwäbischen und der Fränkischen Alb. In den 1920er- und 1930er-Jahren begleiten wir das nur auf den ersten Blick beschaulich wirkende Leben der Bauerntochter Babett Rosch, später Babett Maurer.
Drei grundverschiedene Freundinnen
1919 ist Babett zehn Jahre alt, geht in die Dorfschule und trifft sich nach dem Unterricht mit ihren Freundinnen Rosl Bößwanger und Evelin Gruber beim Gänsehüten. Dieses Freundschafts-Kleeblatt ist ungewöhnlich, weil es Standesgrenzen überschreitet: Babetts Familie ist in der Gemeinde angesehen, Rosl lebt in familiären Verhältnissen, bei denen heute das Jugendamt einschreiten würde und Evelin ist die Tochter des Gutsherrn. Es dauert ein Weilchen, bis Babett und Rosl merken, dass Evelins Leben bei weitem nicht so glamourös ist, wie sie sich das vorgestellt haben.
Kurz sieht es so aus, als könnten sich Rosls Lebensumstände bessern. Die neue Musiklehrerin entdeckt und fördert ihre engelsgleiche Stimme und Rosl malt sich schon eine Karriere als Sängerin aus …
Zwei gehen fort, eine bleibt
Ein paar Jahre später lebt und arbeitet Rosl in Stuttgart, Evelin geht in Regensburg aufs Konservatorium und schreibt ihren Freundinnen eigenartig wirre Briefe. Babett ist in der vertrauten Umgebung geblieben und hat den Landwirt (und „abgebrochenen“ Theologiestudenten) Karl Maurer geheiratet. Sie kann gar nicht fassen, dass ausgerechnet sie so einen tollen Mann abgekriegt hat. Wir Leserinnen werden jedoch das Gefühl nicht los, dass an dem Kerl irgendwas seltsam ist.
Ein Findelkind!
1930: Babett tut sich schwer mit der Mutterrolle. Zu Anna, ihrer Erstgeborenen, kann sie keine Beziehung aufbauen. Sie hält sich schon für gänzlich unfähig, als sie vor dem Haus einen Korb mit einem Baby darin findet. Die unbekannte Mutter hat dem neugeborenen Knaben einen Umschlag mit Geld mitgegeben, eine Notiz mit der bitte, ihn „Kaspar“ zu taufen – und ein goldenes Medaillon.
Beim Anblick des Kleinen geht Babett das Herz auf. Sie kann also doch ein Kind lieben – nur eben nicht ihre Tochter.
Weil die Mutter unauffindbar ist, darf Kaspar bleiben. Er erhält den Nachnamen Maurer und wächst mit seiner wilden, ungebärdigen Ziehschwester wie ein Zwillingsbruder auf. Der Brave und das Biest. Da auf dem Dorf sowieso nichts geheim bleibt, weiß Kaspar von klein auf, dass er nicht wirklich zur Familie Maurer gehört. Details kennt er nicht. Von der Dorfjugend wagt niemand, ihn als „Kuckuckskind“ zu hänseln, weil alle Angst vor seiner rabiaten Schwester Anna haben. Die würde jedem das Fell gerben, der ihren Bruder auch nur schief ansieht!
Babett tut alles, um Kaspar zu beschützen
Maurers haben Kaspar nie offiziell adoptiert. Inoffizielle Pflegekind-Verhältnisse waren früher keine Seltenheit. Das heißt aber, dass jederzeit jemand daherkommen und Anspruch auf das Pflegekind erheben kann. So auch hier. Papa Karl ist kein Kämpfer, aber Mutter Babett würde buchstäblich alles tun, um ihren Ziehsohn zu beschützen …
Frankfurt 1994: Die Werbetexterin Gabriele „Ella“ Hüls, 29, hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist. Ihr Lebensgefährte, der Architekt Matthias, ist hocherfreut. Doch bevor Ella ihre Eltern informieren kann, haut ihr die Frau, die sie bislang für ihre Mutter gehalten hat, brutal um die Ohren, dass Ella gar nicht ihr leibliches Kind ist. Sie war ein Findelkind und wurde von Lisbeth und Robert als Baby adoptiert.
Ella ist sprachlos. Wie’s aussieht, hat die gesamte Verwandtschaft Bescheid gewusst, und niemand hat sich je die Mühe gemacht, es ihr zu sagen. Dabei hätte das so vieles erklärt: Die fehlende Familienähnlichkeit und Lisbeths Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Sie hat sich nie für ihre Tochter interessiert. Für emotionale Nähe waren Papa Robert und Tante Margot zuständig.
Die Geschichte wiederholt sich. Und nicht nur das!
Jetzt, wo Ella dabei ist, selbst eine Familie zu gründen, will sie natürlich schnellstmöglich in Erfahrung bringen, wie sie als Neugeborenes vor der Pforte des St. Elisabeth-Krankenhauses in Bad Kissingen gelandet ist. Nur widerwillig rücken ihre Adoptiveltern die Kleidungsstücke heraus, die Ella trug, als sie gefunden wurde. Tante Margot hat ihr den Tipp gegeben. Bei der Babykleidung ist auch ein goldenes Medaillon. Sie öffnen es, und es wirft weitere Fragen auf …
Als Leserin beginnt man zu ahnen, dass sich hier nicht nur Kaspars Geschichte wiederholt hat, sondern dass die beiden „Kuckuckskinder“ etwas miteinander verbindet. Aber was? Wir werden es bald erfahren, denn Ella Hüls weiß sehr genau, wie man recherchiert! Beharrlich trägt sie Informationen zusammen und fördert damit ein ganzes Geflecht an Familiengeheimnissen zutage …
Beste Absichten, zweifelhafte Entscheidungen
Auch wenn einige Menschen in der Geschichte zweifelhafte Entscheidungen treffen: Einen „Schuldigen“ konnte ich hier nicht ausmachen. Löwenmutter Babett tut alles für ihre Kinder … Papa Karl hat keine andere Wahl … Evelin Gruber weiß es nicht besser … Rosl Bößwanger ist permanent im Überlebensmodus und kämpft mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Das Leben ist nicht zimperlich mit ihr umgegangen, also ist sie es auch nicht.
Anna Maurer, Kaspars Ziehschwester, ist direkter und radikaler als andere Leute. Für sie fühlt es sich bestimmt richtig an, was sie tut. Wie Lisbeth Hüls in diese Geschehnisse hineingeraten konnte, ist mir allerdings ein Rätsel. Ihrem Mann zuliebe? Oder um eine gesellschaftliche Norm zu erfüllen? Und Kaspar? Der hat’s bei Babetts Familie gut getroffen, doch das ändert nichts an seinen traumatisierenden Erfahrungen. Er spricht etwas aus, das auch für das andere Findelkind in der Geschichte gilt:
„Aber wieso habt ihr mir das nicht gesagt?“, fragte Kaspar. „Ihr hättet es mir doch erklären können […].“
(Seite 363)
„Du warst noch so klein“, sagte Babett. „Du hättest es nicht verstanden damals.“
„Vielleicht“, sagte Kaspar. „Aber ohne Erklärung hab ich es noch weniger verstanden.“
Wahrscheinlich sollte man seine Kinder nicht unterschätzen und rechtzeitig mit ihnen reden. Weil niemand hinreichend offen war, wird die Suche nach Zugehörigkeit für Kaspar und Ella zum Lebensthema.
Berührend, spannend, raffiniert – und mit einem wahren Kern
Wer das dörfliche Leben noch aus der eigenen Kindheit und Jugend kennt, dem könnte hier einiges bekannt vorkommen. Manche Eigenheiten haben sich lange gehalten. Und so hat man hier neben einer berührenden, spannenden und raffiniert verwobenen Familiengeschichte voller Geheimnisse auch noch eine kleine Zeitreise.
Ich empfehle in diesem Fall, auch das Nachwort zu lesen. Die Story vom Kuckuckskind hat nämlich einen wahren Kern …
Die Autorin
Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, ging nach der Schule für ein Jahr nach Neapel, bevor sie in Trier Grafikdesign studierte und anschließend als Werbetexterin arbeitete. Bereits da begann sie mit dem Schreiben. Ihre Romane für Kinder und Erwachsene stürmen regelmäßig die Bestsellerlisten und sind preisgekrönt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Düsseldorf.
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Rezensentin: Edith Nebel
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