Beatrix Gerstberger: Die Hummerfrauen. Roman

Beatrix Gerstberger: Die Hummerfrauen. Roman, München 2025, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28476-9, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 393 Seiten, Format: 13,8 x 3,44 x 21,5 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 16,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) dtv

„Ab und zu dachte Ann […], dass sich all dies zerbrechlich anfühlte. Als hielte das gewohnte Leben nur kurz die Luft an um jeden Einzelnen von ihnen in dieser Wohlfühlblase in Sicherheit zu wiegen und dann wieder auszuspucken.“

(Seite 201)

Hier gibt’s viele Personen und drei Zeitebenen (2018, 2000 und 1982). Ich musste erst einmal ein paar Notizen machen, um mich in der Geschichte zurechtzufinden. Das hat sich aber gelohnt!

Seattle, 2018: Mina Gray, Mitte 40, erhält überraschend einen Anruf aus Stone Harbor/Maine: Eine Freundin, bei der sie vor Jahren eine Weile gewohnt hat, ist verstorben. Nun soll sie zur Beerdigung kommen und unbedingt ihre siebzehnjährige Tochter Luca mitbringen. Die Verstorbene habe das ausdrücklich so gewünscht. Die Tochter hat keine Lust dazu, Mina fürchtet sich davor, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden – und trotzdem reisen die beiden nach Maine.

Bis 1982 war es für die Familie Gray aus Philadelphia ein festes Ritual: Den Sommerurlaub verbrachten sie bei den Hummerfischern auf Eagle Island/Maine. Die Grays – der Jurist Richard, seine Frau „ich-war-mal-Vorstandssekretärin“ Judith und die Kinder Christopher (geb. 1970) und Mina (Jahrgang 1972).

Die Kinder kennen es gar nicht anders. In der Hummerfischer-Familie Jones finden sie sowas wie Wahlverwandte. Von früh bis spät sind die Gray-Kinder mit dem beiden Jones-Söhnen Jack und Sam auf der Insel unterwegs. Kein Erwachsener kümmert sich darum, was sie den ganzen Tag treiben. Es ist himmlisch und es ist das, was für die Geschwister Gray einer unbeschwerten Jugend am nächsten kommt.

Und dann, im Sommer 1982, muss irgendwas Schreckliches passiert sein, von dem Mina nichts mitgekriegt hat. Die Grays reisen Hals über Kopf ab und kehren nie wieder nach Maine zurück. Es wird auch nie darüber gesprochen. Christopher ist seitdem völlig neben der Spur und kriegt sein Leben nicht auf die Reihe. Mit 30 kommt er bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Stone Harbor/Eagle Island, 2000: Mina, die mit 28 Jahren noch immer bei ihren Eltern lebt, flüchtet vor Judiths theatralischer Trauer nach Stone Harbor, an den Ort, an dem sie zuletzt als Familie glücklich waren. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

Durch Zufall landet Mina als Feriengast bei Ann Pretchett, 72, einer Hummerfischerin mit eigenem Boot – und bleibt. Ann ist rau, introvertiert und ein bisschen exzentrisch. So hält sie zum Beispiel einen blauen Hummer als Haustier. Sie hat ihn gefangen, seine Farbe hat ihr gefallen, also hat sie ihn behalten. Er heißt jetzt Mr. Darcy und wohnt in einem Aquarium in ihrer Küche.

Ann ist keine Einheimische. Sie hatte vor Jahrzehnten mal ein vollkommen anderes Leben, ist in Maine hängengeblieben, nachdem das Schicksal sie gebeutelt hatte und ist Hummerfischerin geworden. Was die Dorfgemeinschaft zunächst argwöhnisch beäugt hat: Hummerfischen ist doch keine Arbeit für eine Frau!

Inzwischen haben sich die Leute an Ann und ihre Tätigkeit gewöhnt. Sie hat jetzt sogar eine Kollegin: Julie Barker (54). Auch sie hatte mal eine vielversprechende Karriere in einem gänzlich anderen Bereich und kam erst nach Maine und zum Hummerfischen, nachdem sie aufgrund eines schweren Unfalls ihren ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben konnte.

Die beiden ungleichen Außenseiterinnen – die zurückhaltende Ann und die laute, umtriebige Julie – sind befreundet. Beide akzeptieren, dass Mina Gray um ihren Bruder trauert und unbedingt herausfinden will, was 1982 auf Eagle Island passiert ist – auch wenn sie die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht unbedingt begrüßen. Sie haben gelernt, dass es manchmal leichter ist, neu anzufangen, sich quasi zu häuten wie die Hummer. Aber gut, wenn es Mina bei der Trauerbewältigung hilft, dann soll sie eben nachforschen!

Wenn jemand mehr über die Ereignisse von damals weiß, dann ist das Sam Jones, Minas Kumpel von damals. Auch Sam ist nicht begeistert vom Herumwühlen in der Vergangenheit. Er sieht das so wie die meisten Leute hier:

„Die Menschen hier sprechen nicht gern von ihren Toten. Der Alltag ist hart, es gibt keinen Anspruch auf Erklärungen“

(Seite 253 und Seite 292)

Dafür ist er umso begeisterter von der jetzt erwachsenen Mina. Ann und Julie sehen das mit Sorge. Ist ja schön, dass die beiden jungen Leute Gefallen aneinander finden, doch ihre Lebenspläne passen überhaupt nicht zueinander. Hoffentlich bahnt sich hier nicht die nächste Katastrophe an …!

Im rauen und harten Leben der Hummerfischer ist der Tod allgegenwärtig. Sentimentalität findet wenig Raum. Und es gibt eine Menge ungeschriebener Gesetze: Dinge, die man nicht tut, sagt oder auch nur denkt. Wenn man diese Regeln befolgt, wird man vielleicht irgendwann von den Einheimischen akzeptiert. Und dann hat man Freunde fürs Leben.

Ann, Julie und Mina tun sich mit diesem Hummerfischer-Kodex schwer. Sie sind eben von außen in eine enge, traditionsreiche Gemeinschaft hineingeraten. Dieser „Kultur-Clash“ ist mitunter durchaus komisch. Wenn sich zum Beispiel die schandmäulige Julie mit der spießigen Bibliothekarin Linda anlegt, statt sich brav von ihr belehren zu lassen. Und auch Julies Beziehung zu den Eheleuten Cooper hat ihre Momente. 😉

In ihrer bildhaften Sprache erzählt uns die Autorin sehr mitreißend von berührenden Schicksalen. In erster Linie geht es natürlich um die drei Frauen, die an die Küste ziehen, weil sie sich von der Kraft des Meeres auf unterschiedliche Weise Heilung ihrer seelischen Wunden versprechen. Manchmal genügt ja schon Ablenkung durch harte Arbeit. Aber es geht auch um die Menschen, die in ihrer kleinen Welt wohnen bleiben, weil sie sich kein anderes Leben vorstellen können oder weil sie es aus Traditions- und Pflichtbewusstsein nicht wagen, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen.

Alle haben hier nachvollziehbare Gründe für ihr Tun. Nur für Minas egozentrische Mutter Judith konnte ich wenig Mitgefühl aufbringen. Die gibt immer erst dann Ruhe, wenn sie es geschafft hat, dass sich alle Menschen um sie herum so unglücklich fühlen wie sie selbst. Hätte ich nicht den festen Vorsatz, mich nicht despektierlich über andere Frauen zu äußern, würde ich jetzt sagen: frustrierte Kuh! Es ist in diesem Buch eben wie im richtigen Leben: Nicht jeder kann das finden, was er braucht und was er sucht. Weitermachen muss man trotzdem.

Beatrix Gerstberger, geboren 1964, ist freie Autorin für ›Brigitte‹, ›Stern‹ und ›Geo‹. Sie schrieb den SPIEGEL-Bestseller ›Keine Zeit zum Abschiednehmen‹ über den frühen Tod ihres Partners und die Geschichten von weiteren jungen Witwen vor 20 Jahren, als sie für sechs Monate in einem Hummerfischerdorf in Maine lebte. Viele Jahre später kehrte sie an diesen Ort zurück, fuhr mit Hummerfischerinnen hinaus aufs Meer und sprach mit ihnen über das Leben, über Verluste, Trauer und das Weitermachen. Daraus entstand die Idee für diesen Roman. Beatrix Gerstberger lebt in Hamburg.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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