Nina George: Die Passantin, Roman

Nina George: Die Passantin, Roman, Zürich – Berlin 2025, Kein & Aber AG, ISBN 978-3-0369-5073-0, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 317 Seiten, Format: 19 x 12,5 x 3 cm, Buch: EUR 26,00, Kindle: EUR 18,99.

Abb.: (c) Kein & Aber AG

„Mein Mann sah mich an, als er an mir vorbeiging, und ich ihn, flüchtig, vage, eine Passantin im wechselnden Strom der Demonstranten. Er hatte mich nicht erkannt, oder vielleicht doch, und sich gesagt, dass es nicht sein konnte, denn schließlich war ich seit viereinhalb Jahren tot.“

(Seite 7)

Barcelona 2015: Die berühmte französische Film- und Theaterschauspielerin Jeanne Patou (49) sitzt am Tresen einer Bar und erfährt zu ihrem maßlosen Erstaunen aus den Fernsehnachrichten von ihrem eigenen Tod. Das Flugzeug, in dem sie hätte sitzen sollen, in das sie aber nicht eingestiegen ist, ist in den südfranzösischen Alpen abgestürzt. Es gibt keine Überlebenden.

Jeanne müsste jetzt nur ihre Familie anrufen, sagen, dass sie den Flieger „verpasst“ hat – und alles wäre wieder wie zuvor. Aber sie ist ja aus einem bestimmten Grund nicht an Bord gegangen: Sie hat ihr bisheriges Leben nicht mehr ertragen.

„Ich kann nicht.
Ich will nicht.
Ich will das nicht.
Alles will ich nicht.“

(Seite 14)

Da kommt ihr eine verrückte Idee: Wie wäre es, wenn sie für alle anderen „tot“ bliebe und in Barcelona ein ganz neues Leben anfinge? Eines nach ihren Vorstellungen und nicht nach den Erwartungen anderer?

Wo andere Menschen einen inneren Monolog führen, führt die Schauspielerin hier einen inneren Dialog. Die Erzählstimme ist die ihres eigentlichen Ichs, die des pragmatischen Mädchens aus einfachen Verhältnissen, das sie war, bevor sie nach Paris auf die Schauspielschule gegangen und zu Jeanne Patou geworden ist. Ihr ursprünglicher Name wird erst ganz zum Schluss enthüllt. Irgendwie muss ich sie aber nennen, also verwende ich im Folgenden ihre Initialen: A. M.

A. M. also denkt, handelt und erzählt, Jeanne fragt, reagiert und widerspricht. So irren „die beiden“ mit ihrem Rollkoffer durch Barcelona und überlegen, was sie nun tun sollen. Als die hilfsbereite Verkäuferin Tania sie anspricht und ein Quartier in dem „Haus der Frauen“ vermittelt, in dem sie auch selbst wohnt, habe ich im ersten Moment gestutzt: Warum bietet sie nur A. M. eine Unterkunft an? Was ist mit Jeanne? – Ach so, ja: Das ist ja ein und dieselbe Person!

Hausverwalterin Lisann und die übrigen Bewohnerinnen stellen keine indiskreten Fragen. Jede von ihnen hat schon ein altes Leben zurückgelassen und sich neu erfunden, und jede hatte gute Gründe dafür. Zwei von ihnen, die Polizistin Nina und Computer-Nerd Dona Marca haben Erfahrung darin, Identitäten zu fälschen und so ist A. M. / Jeanne Patou bald als die unscheinbare Consuela „Sella“ Rubio Garcia unterwegs und, wenn die Situation es erfordert, auch mal als androgyner „Carlos“. Sie ist ja Schauspielerin, sie kommt damit durch.

Doch „tot“ zu sein ist gar nicht so einfach! Zwar ist der Druck weg, beruflich und privat nie sie selbst sein zu können, aber so ganz ohne Handy, ohne Bankverbindung und Krankenversicherung ist das Leben ziemlich mühsam. Und weil es fast 40 Jahre her ist, dass A. M. zuletzt getan hat, was sie selbst tun wollte, hat sie keine rechte Vorstellung davon, wie ihr neues Leben aussehen soll.

Nina vermittelt „Sella“ einen Job, sie engagiert sich in einer Wohltätigkeitsorganisation, lernt Selbstverteidigung und inspiriert andere. Doch irgendwie fühlt sich das alles eher nach Ersatzlösung, Schattendasein und einem Zeugenschutzprogramm an als nach einem erfüllenden neuen Leben. Ihren alten Beruf vermisst „Sella“ nicht, ebenso wenig wie ihren Gatten Bernard. Der ist zwar attraktiv, erfolgreich und vermögend, führt sich aber hinter verschlossener Tür wie ein rücksichtsloses, narzisstisches A***l*ch auf. Wahrscheinlich ist er eines! Nur ihre Töchter fehlen ihr.

Barcelona 2019: So gehen viereinhalb Jahre ins Land. Während die anderen vom Schicksal gebeutelten Bewohnerinnen des Hauses der Frauen so langsam wieder ins Leben zurückfinden, wird Sella immer stiller und blasser. Freundin Nina macht sich Sorgen. Und dann läuft Sella ganz unerwartet auf der La Rambla ihrem Mann und dessen aktueller Lebensgefährtin über den Weg.

Wie werden die drei nun reagieren? Bernard wird vermutlich vor Wut platzen, wenn er merkt, dass Jeanne ihn ausgetrickst hat. Aber wird er sie in dem Menschengewimmel überhaupt wahrnehmen? Claire, die Lebensgefährtin, hat die angeblich Tote längst erkannt, wird aber den Teufel tun, ihren Partner auf sie aufmerksam zu machen. Das gibt nur Ärger! Und die Schauspielerin selbst? Weiß sie inzwischen, wer sie künftig sein will? A. M., Jeanne oder Sella? Wird sie sich Bernard zu erkennen geben? – Die Begegnung hat was von einem Showdown …

„Wie kommt es nur, dass Frauen solche langen Wege gehen müssen, bevor sie bei sich ankommen?“ fragt sich die Heldin (Seite 317). Wahrscheinlich, weil man uns dazu erzogen hat, still, folgsam und anspruchslos zu sein und brav das zu tun, was andere von uns erwarten. Und weil es schwer ist, dies zu durchschauen und gewohnte Verhaltensmuster zu durchbrechen. Wenn man Pech hat, hat man verlernt, zu spüren, was man selbst möchte.

Diesen Roman liest man nicht mal eben so locker weg. Es gibt verschiedene Perspektiven und Zeitebenen, und die Personen handeln nicht nur, sie denken intensiv nach. Das tut man als Leserin unwillkürlich auch. Wenn Sella, Nina und die anderen über ihre Träume, Ziele und Pläne sinnieren, über ihre Vergangenheit und darüber, ob ein selbstbestimmtes Leben möglich ist, trotz verkorkster Erziehung und wiederholter Gewalterfahrung, kann man nicht anders, als die eigene Lebensgeschichte mit den ihren abzugleichen: „Kann ich das nachvollziehen und bestätigen? Lebe ich denn so, wie ich es möchte, oder erfülle ich auch nur die Vorstellungen anderer, weil ich selbst gar keine mehr habe? Und sollte das der Fall sein – wie komme ich aus dieser Falle wieder raus?“

Ich fand den Roman mitreißend, außergewöhnlich – und wichtig. Es gibt einfach Themen, die kann man nicht oft, laut und deutlich genug ansprechen.

Nina George (*1973) ist Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin und Moderatorin. Ihr Roman „Das Lavendelzimmer“ wurde in 36 Sprachen übersetzt und war u. a. ein New-York-Times-Bestseller und Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen der USA. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jens J. Kramer, schreibt Nina George außerdem Kinderbücher. Für ihr literarisches Werk sowie ihr kulturpolitisches Engagement, u. a. als politische Beauftragte des European Writers’ Council, als Gründerin des Netzwerks Autorenrechte und als Initiatorin der Initiative #frauenzählen, wurde Nina George als BücherFrau des Jahres ausgezeichnet und erhielt das Bundesverdienstkreuz. Nina George lebt in Berlin und in der Bretagne.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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