John Harvey: Schlaf nicht zu lange. Kriminalroman. OT: Darkness & Light. Deutsch von Sophia Kreutzfeldt, München 2008, dtv, Deutscher Taschenbuchverlag, ISBN 978-3-423-21064-5, Softcover, 427 Seiten, Format 12 x 19 x 2,5 cm, Euro 8,95 [D] 9,20 [A], sFr 15,90.
Vier Jahre ist es jetzt her, dass Detective Inspector Frank Elder den Polizeidienst in Nottingham quittiert und sich nach Cornwall zurückgezogen hat. Seine Ehe mit der Friseurin Joanne ist gescheitert, die Beziehung zu ihrer gemeinsamen Tochter Katherine, inzwischen 19, gestört. Die Tochter ist traumatisiert, seit sie von einem Psychopathen entführt, gefangen gehalten und missbraucht worden ist. Was ihr sicher nie widerfahren wäre, wäre ihr Vater nicht Polizist gewesen.
Als eines Nachmittags Franks Exfrau anruft, ist sein erster Gedanke, Katherine könnte wieder etwas zugestoßen sein. Doch es geht ’žnur’œ um die Schwester einer gemeinsamen Bekannten. Claire Meecham, Mitte 50, verwitwet und sonst immer die Zuverlässigkeit in Person, ist seit über einer Woche verschwunden. Die Polizei nimmt den Vorfall nicht ernst. Ob Frank nicht vielleicht nach Nottingham kommen und ein paar Nachforschungen anstellen könnte …?
Frank ist zunächst wenig begeistert von der Idee, doch ein Besuch in Nottingham bietet ihm immerhin die Gelegenheit, seine Tochter wiederzusehen, und so sagt er zu.
Nachdem er Nachbarn, Kollegen und Verwandte der verschwundenen Claire befragt hat, wird ihm zweierlei klar: Die Witwe ist keinesfalls so bieder und einsiedlerisch, wie es den Anschein hat. Übers Internet lernt sie Männer kennen und trifft sich mit ihnen. Und sie ist wahrscheinlich nicht freiwillig verschwunden.
Bevor Frank weiter nachforschen kann, taucht Claire wieder auf: Schick gekleidet liegt sie in ihrem Bett, das Haar frisch gebürstet ’“ doch sie ist tot. Das erinnert Elder spontan an seinen ersten Fall beim Morddezernat in Nottingham vor acht Jahren. Den Mordfall Irene Fowler, der nie aufgeklärt werden konnte. Hat der Mörder von damals wieder zugeschlagen?
Als Maureen Prior, seine ehemalige Vorgesetzte, am Fundort der Leiche eintrifft, hat sie den gleichen Gedanken. Und ehe Frank Elder es sich versieht, ist er reaktiviert und steht als externer Berater wieder im Dienst der Polizei.
Das Abklappern von Claire Meechams Internet-Bekanntschaften fördert ein paar schräge Vögel zutage, sonst nichts. Also konzentrieren sich die Ermittlungen zunächst auf eine mögliche Verbindung zwischen den beiden Opfern. Haben Irene Fowler und Claire Meecham gemeinsame Bekannte gehabt?
Irene Fowler, 57, geschieden, war nach einer Tagung in ihrem Hotelzimmer tot aufgefunden worden. Den Abend davor hatte sie mit dem Kunstbuch-Verleger Vincent Blaine und dessen Buchhalter und Freund Brian Warren verbracht. Es stellt sich heraus, dass der Verleger auch Claire Meecham gekannt haben muss. Sie war Teilnehmerin in einem seiner Kurse. Kann es wirklich sein, dass er sich nicht an sie erinnert? Denkbar wäre es … welcher Seminarleiter behält schon alle seine Studenten im Gedächtnis?
Und Brian Warren, Blaines ehemaliger Buchhalter? Er hatte sich an Irene Fowlers letztem Abend blendend mit ihr verstanden. War da mehr? Und ist er wirklich der harmlose Opa, für den ihn alle halten? Eines ist klar: So hinfällig, wie er tut, ist er keineswegs.
Verdächtig war seinerzeit auch Richard Dowland, ein Hotelangestellter, der wiederholt als Spanner und Exhibitionist aufgefallen ist. Dowland hat es mittlerweile vom Spanner zum
Gewalttäter gebracht. Er ist ein psychotisches Wrack, und ohne Hilfe seiner Betreuer nicht in der Lage, seinen Alltag zu organisieren. Er hat vor einiger Zeit versucht, die Prostituierte Eve Ward, 53, zu erwürgen. Hat er auch die beiden anderen Frauen auf dem Gewissen? Passen sie überhaupt in sein Beuteraster. Ja … und nein.
Auch Wayne Johns gerät in das Visier der Ermittler. Er ist einer von Claire Meechams Chatroom-Dates. Seine Firma war es, die vor 8 Jahren die Tagung ausgerichtet hat, bei der Irene Fowler ermordet wurde. Seine Vergangenheit ist dubios und sein Umgang mit Frauen ebenfalls. Kannte auch er beide Frauen?
Noch eine von Claires Internet-Bekanntschaften erweckt die Aufmerksamkeit der Beamten: Stephen Singer ist nicht der weltfremd-unbedarfte Sonderling, als den er sich bei der ersten Befragung dargestellt hat.
An Verdächtigen herrscht also kein Mangel. Und zwischen den Ermittlungen muss auch das zum Teil recht chaotische Privatleben gelebt werden. Frank Elders Exfrau hat Probleme mit dem Alkohol, Frank hat Probleme mit ihr ’“ und damit, dass er seine Tochter Katherine nur immer zwischen Tür und Angel sieht. Ständig ist sie auf dem Sprung. Seine Versuche der Kontaktaufnahme sind ihr lästig.
Maureen Prior, zugeknöpft und unnahbar wie eh und je, lässt sich halbherzig auf einen Flirt mit Ben Leonard, dem psychologischen Betreuer des Verdächtigen Dowland ein. Doch zu viel Nähe erträgt sie nicht. Auch sie hat mit Gespenstern aus ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Frank Elder fragt sich seit Jahren, welche das wohl sein mögen …
Wird Elder je erfahren, was seine Chefin so traumatisiert hat? Wird die Polizei den ’“ oder die? ’“ Mörder von Irene Fowler und Claire Meecham fassen? Ist es überhaupt jemand aus der Riege der Verdächtigen? Und was hat es mit den rätselhaften Szenen aus den 60-er Jahren auf sich, die immer mal wieder schlaglichtartig in die Romanhandlung eingestreut werden?
John Harvey, 1938 in London geboren, wurde durch seine Drehbücher für Krimiserien im britischen Fernsehen bekannt. Diese ’žSchule’œ merkt man dem Roman auch an: Er ist sehr dialogstark. Personen und Szenen werden ohne Umschweife mit präzisen Worten skizziert. Die Handlung läuft wie ein Film vor dem Leser ab. Ja, den Roman könnte man sich wunderbar als Fernsehkrimi vorstellen.
Doch obwohl die Personen regelrecht greifbar wirken, bleibt man als Leser den Opfern und den Mordfällen gegenüber eigenartig distanziert. Vielleicht, weil wir Irene Fowler und Claire Meecham nicht selbst ’žkennengelernt’œ haben und nur durch Zeugenbefragungen etwas über sie erfahren? Oder weil die beiden Frauen Zufallsopfer eines Psychopathen zu sein scheinen und es einem im Grunde gleichgültig ist, wer aus diesem gruseligen Panoptikum gestörter Unsympathen schlussendlich dafür hinter Gitter wandert?
Dem Krimi fehlt damit das Geheimnis. Wenn das Böse aus dem geschützten privaten Bereich des Opfers kommt, Motiv und Täter überraschen und entsetzen, berührt das den Leser mehr. Zufallsopfer von Serientätern sind für einen Kriminalroman ungefähr so interessant wie Zufallsopfer von Verkehrsunfällen …
Der Autor wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, zuletzt von der britischen Crime Writers’™ Association mit dem ’žDiamond Dagger’œ für sein Lebenswerk. Und sein Autorenkollege Reginald Hill sagte: ’žWenn er noch besser wird, sollen wir anderen ihn vielleicht aus dem Weg räumen’œ. Keine Frage: Schreiben kann er. Nur dieser Fall hier, der reißt einen einfach nicht mit.