Carla Berling: Glück für Wiedereinsteiger. Roman

Carla Berling: Glück für Wiedereinsteiger. Roman, München 2024, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN: 978-3-453-42905-5, Softcover, 288 Seiten, Format: 11,7 x 2,8 x 18,6 cm, Buch: EUR 13,00 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99.

Abb.: (c) Heyne

Er war nachdenklich. […]
„Unsere Freunde … […] … Es fühlt sich für mich an, als wären sie alle irgendwie gefangen. Als würden sie feststecken in ihren Gewohnheiten und Abläufen.“
„Ja, stimmt. Außer Bea und Marita wirken sie, als würden sie nach einem Drehbuch leben, das sie nicht selbst umschreiben können.“
 

(Seite 103)

Die Bankangestellten Ronny und Thea Schmidt, beide 59 und am 1. Januar geboren, waren schon zu Schulzeiten ein Paar. Sie haben jung geheiratet und drei Töchter bekommen. Jetzt steht ihr gemeinsamer 60. Geburtstag an und gleichzeitig ihr 40. Hochzeitstag. Grund für eine ganz große Feier mit Familie, Freunden und alten Weggefährten, die sie zum Teil schon ewig nicht mehr gesehen haben.

Das Paar beschließt, im Urlaub eine Tour durch Deutschland zu machen und den Freunden, die sie ein wenig aus den Augen verloren haben, die Einladung persönlich zu überbringen. Mit Voranmeldung, natürlich. Spätestens hier wird die Geschichte saukomisch und tragisch zugleich.

Schmidts sind teilweise regelrecht entsetzt, wie sich manche Freunde im Lauf der Zeit entwickelt haben. Die einen machen sich – und einander – was vor, die anderen leben nebeneinander her, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es gibt höchst eigenartige Beziehungskonstellationen, die man als Außenstehender nicht verstehen muss. Und einer hat sich nach dem Tod seiner Frau sogar schon in eine Seniorenresidenz zurückgezogen. Er hält sich aber nach wie vor für Gottes Geschenk an die Frauen. Auch mit Toupet.

Nur zwei haben unterwegs erkannt – oder mussten erkennen -, dass ihr Leben in eine Sackgasse geraten ist, haben eine Veränderung herbeigeführt und sich weiterentwickelt. Der Rest wurstelt vor sich hin wie eh und je, auch wenn ihnen das längst nicht mehr guttut.

Das bringt die Schmidts ins Grübeln. Ist das bei ihnen am Ende auch so? Alles nur Gewohnheit? Wollen sie wirklich die nächsten 30 (?) Jahre genau so weitermachen wie bisher? Ein inzwischen viel zu großes Haus nebst Garten in Schuss halten und der Familie den Allerwertesten hinterhertragen? Nicht umsonst ist Theas Spitzname „das Kümmermonster“. Dazu passt auch ihr stark ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Ja, auch um die Erde muss sie sich ständig kümmern, selbst wenn das manchmal unbequem ist.

Wollen Schmidts das tatsächlich so haben? Oder sind sie aus diesem Leben inzwischen unbemerkt herausgewachsen? Sie stellen fest, dass es gar nicht so einfach ist, wieder zu spüren, was man selbst will, wenn man seit Jahrzehnten nur getan hat, was man tun musste. 

In einem ernsten Gespräch wird ihnen klar, dass ihnen ihre Verpflichtungen längst zu viel sind. Das meiste davon kann weg. Doch was kommt dann? Hier liegen ihre Wünsche weit auseinander. Der kultivierte und frankophile Ronny würde am liebsten nach Paris ziehen, die bodenständige und naturverbundene Thea zieht es dagegen nach Neuseeland, das sie zunächst einmal als Rucksacktouristin erkunden will. Das ist völlig unvereinbar. Thea hasst große Städte und Ronny hat’s nicht mit der Natur. Ja – und jetzt?

Bei der großen Familienfeier lassen sie die Bombe platzen: Sie gehen ab sofort getrennte Wege. Jeder wagt einen Neustart in dem Land seiner Wahl. Wenn die zwei auf Beifall für ihre mutige Entscheidung gehofft hatten, haben sie sich getäuscht. Die Gäste sind schockiert, Theas alter Vater fragt sich, wer für ihn sorgen wird, wenn er allein nicht mehr zurechtkommt, und die erwachsenen Kinder sind beleidigt, weil die Eltern ungefragt das Haus vermietet haben und nun ihr eigenes Leben leben wollen. Wo bleibt dann der gewohnte Kümmermonster-Service? Sehr egoistisch, diese jungen Leute, denkt man beim Lesen. Aber wie hätten wir wohl selbst reagiert, wenn unsere Eltern uns mit einer derartigen Entscheidung überfallen hätten?

Da hilft kein Jammern und kein Schmollen: Das Projekt „Neustart“ ist längst eingetütet. Ronny hat eine Wohnung in Paris gemietet, Thea ihre Neuseeland-Reise gebucht. Es geht also los.

Jetzt hatte ich erwartet, dass wir Zeuge werden, wie Ronny sich in Paris einlebt und Thea durch Neuseeland tourt. Und dass die beiden vielleicht doch merken, dass ihnen die Familie fehlt. Aber so leicht macht es die Autorin ihren Hauptfiguren und uns Leser:innen nicht! 

Leben ist bekanntlich das, was sich abspielt, während man andere Pläne schmiedet. Nichts kommt so, wie es geplant war. Bei Ronny in Paris läuft es ziemlich unrund und bei Thea auch. Sie landet zunächst im Krankenhaus und dann … also jedenfalls nicht am Ziel ihrer Wahl. Aber vielleicht doch am Ziel ihrer Träume? Das wird die Zeit zeigen. Manchmal nimmt das Schicksal ja seltsame Umwege. 

Eines merkt Thea recht schnell: Sie braucht keinen Ehemann zum Überleben. Sie kommt sehr gut alleine klar. Ihre Familie fehlt ihr nicht, höchstens ihre Enkelin. Im Moment erlebt sie aber auch so viel Neues, dass sie gar keine Zeit hat, Mann und Kinder zu vermissen. Sie kommt ja kaum zum Nachdenken! Doch dass sie an den Entwicklungen in ihrem Leben nicht ganz unschuldig war, das dämmert ihr inzwischen. 

Vielleicht hätte sie ihre ständige Kümmerei viel früher zurückfahren und sich stattdessen darauf besinnen sollen, was sie selbst will und braucht? Dann hätte sie vielleicht auch gemerkt, dass Ronny und sie sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Wie gut, dass sie mit der Familiengründung so früh angefangen haben und entsprechend früh damit durch waren! Jetzt sind sie noch jung und fit genug für einen Neustart. Wie auch immer der sich gestalten mag. Denn was Schmidts planen, scheint ziemlich Wurscht zu sein. Es kommt sowieso immer anders …

WARNUNG: Dieses Buch möglichst nicht in der Öffentlichkeit lesen! Auch nicht auf dem Balkon. Lautloslach-Gefahr! Für euch getestet. 😀 Wenn die Nachbarn mich bis jetzt noch nicht für meschugge gehalten haben – jetzt tun sie es bestimmt. Schmidts Besuchstour bei ihren alten Freunden ist der Brüller. Bei der ein oder anderen Gestalt dachte ich: „Mensch, den/die kenne ich doch! Das ist doch …“  – Wenn man im entsprechenden Alter ist, ist die Chance eben groß, Leuten mit ähnlichem Habitus begegnet zu sein. Und wenn Theas Freundinnen Marita und „Heppi“ ganz unverblümt ihre Stories erzählt haben, war ich nur noch am Wiehern.

Doch wie alle Carla-Berling-Komödien ist dies hier kein Klamauk. Die bekichernswerten Szenen sind Leckerlis für die Leser:innen. Im Grunde geht’s darum, wie man lebt – und wie man leben möchte. Die Frage, ob das, was man bisher gemacht hat, noch zu einem passt oder ob man nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit daran festhält, muss erlaubt sein. Genau wie die Konsequenzen, die man unter Umständen daraus zieht, selbst wenn die dem persönlichen Umfeld nicht in den Kram passen.

Beim Lesen habe ich mich allerdings gefragt, ob Thea in ihrem neuen Leben nicht genau das gleiche macht wie in ihrem alten: sich um alles und jeden kümmern. Aber gut: Das liegt ihr, das kann sie. Jetzt macht sie’s freiwillig und nicht, weil es von ihr erwartet und verlangt wird. Alle wissen, dass sie jederzeit damit aufhören und zu einem neuen Ziel aufbrechen kann. Und das Schöne ist: Thea weiß es auch.

Carla Berling, Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. Mit »Der Alte muss weg« wechselte sie sehr erfolgreich in die humorvolle Unterhaltung. Unter dem Pseudonym Felicitas Fuchs schreibt sie darüber hinaus historische Familiengeschichten. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem regelmäßig mit ihren Romanen durch große und kleine Städte.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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