Asta Scheib: Agnes unter den Wölffen -“ Roman

Asta Scheib: Agnes unter den Wölffen ’“ Roman, München 2009, Deutscher Taschenbuch Verlag dtv, ISBN 978-3-423-21145-1, 171 Seiten, Format 12 x 19 x 1,5 cm, EUR 8,95 [D], EUR 9,20 [A].

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Seit der Scheidung der Eltern ging es nur noch bergab. Das findet jedenfalls die 16-jährige Agnes Ruge. Ihr Vater Michael, der erfolgreiche Drehbuchautor, der aussah wie Robert Redford, lebt nicht mehr. Mutter Juliane, eine Schauspielerin, ist seit einer verpfuschten Operation gehbehindert und derzeit wieder einmal im Krankenhaus. Und Stiefvater Andreas, als Drehbuchautor längst nicht so erfolgreich wie Agnes’™ leiblicher Vater, nervt mit sozialpädagogischem Gelaber.

Aber hat eigentlich irgend jemand in Agnes’™ Bekanntenkreis eine heile Familie? Ihre Freundin Lula jedenfalls nicht. Bei den vielen Geschwistern gibt es keinerlei Privatsphäre, die Mutter ist beruflich viel unterwegs und der Vater hat was mit dem ’žangestrengt hübschen’œ Au-pair-Mädchen. Bei der pummeligen Patti zu Hause schaut es nicht viel besser aus. Da leben drei Generationen in einem Haushalt. ’žDer Alte von Patti soll ein ziemlicher Arsch sein.’œ (…) – ’žDafür ist ihr Opa aber lieb.’œ (Seite 114)

Agnes’™ exzentrische Schulkameradin Alexandra, genannt Danda, die Drogen nimmt und jeden Tag in einer anderen Verkleidung in der Schule erscheint, behauptet zwar: ’žMeine Familie ist okay.’œ (Seite 78), aber warum reißt sie dann immer wieder von zu Hause aus?

An einem Sonntagabend in der U-Bahn kommt Agnes mit dem gleichaltrigen Simon Wolff ins Gespräch. Weil sie den gut aussehenden Jungen für einen reichen Angeber hält, lässt sie sich von ihm nicht auf einen Cappuccino einladen. Als sie sich an der Haltestelle voneinander verabschieden, kommt es zu einer unheimlichen Begegnung: Simons Vater fährt mit dem Auto vor, begrüßt seinen Sohn und starrt Agnes an, als habe er einen Geist vor sich, fragt sie nach ihrem Namen ’“ und fährt grußlos weiter.

Agnes hat jetzt schon genug von den beiden ’žWölffen’œ ’“ und fällt aus allen Wolken, als kurz darauf Simon Wolff vor ihrer Schule steht und sie zu sich nach Hause einlädt. Sie will nicht. Wer ihr erstaunlicherweise hinterher telefoniert und auf einen Besuch und ein Gespräch besteht, ist nicht Simon, sondern sein Vater Lorenz Wolff. Er hat dafür seine Gründe, und die liegen 20 Jahre in der Vergangenheit …

Irgendwann gibt sich Agnes geschlagen und stellt bei ihrem Besuch fest, dass es auch bei der wohlhabenden Familie Wolff mit der glücklichen Familie nicht weit her ist. Simon verachtet alles, was mit der Firma seines Vaters zu tun hat, der Vater hält den Sohn für einen Versager, und Mutter Wolff hat keine eigene Meinung oder hat sich zumindest abgewöhnt, eine zu äußern.

Lorenz Wolffs Interesse an Agnes ist in keinster Weise väterlich, sondern eher erotischer Natur. Was in diesem speziellen Fall ein wenig befremdlich ist, um nicht zu sagen: pervers. Agnes fühlt sich vom Interesse des reifen Mannes gleichermaßen geschmeichelt und abgestoßen.

Wolff senior hat Einfluss, verschafft Agnes’™ Mutter einen Platz in einer besseren Klinik. Ihr Lebensgefährte Andreas soll sie dorthin begleiten. Damit Lorenz bei Agnes freie Bahn hat? Und Simon? Hat er den Machenschaften seines Vaters etwas entgegenzusetzen? Ein ungleicher Konkurrenzkampf um Agnes’™ Zuneigung nimmt seinen Lauf …

Doch die ’žWölffe’œ sind nicht Agnes’™ einziges Problem. Die Freizeitgestaltung von Stiefvater Andreas würde ihrer Mutter ganz und gar nicht gefallen. Soll sie schweigen oder ihre Mutter einweihen?

’žAgnes war müde. Sie hatte alle Leute satt, die über zwanzig waren, aber immer wieder wurde sie in ihr Familien-Hickhack oder Liebesgedröhn hineingezogen.’œ (Seite 132) Und auch die unter Zwanzigjährigen machen nichts als Schwierigkeiten: Freundin Danda, die Exzentrische, hat es wieder einmal nicht zu Hause ausgehalten und ist ausgerückt. Und es kommt noch viel schlimmer …

Wird die Zeit des Chaos und der Verwirrung jemals vorübergehen? Wird Agnes’™ Leben wieder ’žin Ordnung’œ kommen, wenigstens so einigermaßen? Im Moment sieht es jedenfalls nicht danach aus …

Der Roman wurde 1995 als Jugendbuch erstveröffentlicht, spielt also zu einer Zeit, in der man noch mit DM bezahlte und nicht in jeder wachen Minute ein Mobiltelefon am Ohr kleben hatte. Doch auch wenn Zeitgeist und Modeströmungen sich wandeln ’“ das Erwachenswerden gehorcht doch immer den selben Gesetzmäßigkeiten. Es ist eine Zeit der Freundschaft und Verliebtheit, der Ablösung vom Elternhaus, des Begehrens und der Enttäuschungen, der Zukunftspläne, der Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod.

’žManchmal glaubte Agnes, sie könne das Leben nicht mehr aushalten. Dann ging ihr alles zu nah. Die Bilder im Fernsehen von den Verstümmelten der Kriege. Vergewaltigte Frauen und Mädchen, abgefackelte Häuser, Angriffe auf Ausländer (…). Agnes fühlte sich hilflos. Regte sich auf. Verzweifelte. Wollte was tun. Aber was? ’“ Am nächsten Tag schob sie das alles weit weg von sich. Wollte gar nichts mehr tun, sich zusammenrollen auf dem Bett und nicht einmal mehr denken.’œ (Seite 47/48)

Kennen wir das nicht alle, ganz gleich, in welcher Zeit wir jung waren?

Nur wenige Monate begeleiten wir Agnes durch ihr Leben und werden doch Zeuge dreier entscheidender Lebensphasen. Ihre Erinnerungen und Rückblicke zeigen sie uns als Kind, als Teenager lernen wir sie kennen. Und am Schluss der Geschichte hat sie sich weiter entwickelt und denkt schon sehr erwachsen.

Ist es ein Jugendbuch, weil es früher einmal als solches verkauft wurde? Es ist ein berührender und fesselnder Roman über das Erwachsenwerden, aber eher etwas für Jugend-Nostalgiker als für Jugendliche von heute. Mit Sicherheit können sich auch Teenager in Agnes’™ Gefühlswelt hineinversetzen, doch werden sie sich vermutlich vor dem Hintergrund moderner Mediennutzung an entscheidenden Punkten der Geschichte fragen, was die Leute hier eigentlich für Probleme haben.

Eine Agnes des 21. Jahrhunderts käme gar nicht erst in die Verlegenheit, sich über längere Zeit von einem ungebetenen Verehrer am Telefon belästigen, bedrängen und zu etwas überreden zu lassen, was sie nicht tun will. Sie würde einen kurzen Blick aufs Display werfen und das Gespräch einfach wegdrücken. Böse Wölffe, ob groß oder klein, müssten sich heute etwas anderes einfallen lassen.

Die Autorin:
Asta Scheib, geboren am 1939 in Bergneustadt/Rheinland, arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. In den Achtzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Romane und gehört heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

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