Anja Jonuleit: Herbstvergessene ’“ Roman, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24788-7, Softcover/Klappenbroschur, 428 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 3,3 cm, EUR 13,90 (D), EUR 14,30 (A)
’žIch hatte eine Mutter, der es schlicht zu langweilig war, sich um ein Kind zu kümmern. Da gab es nichts, wo sie glänzen konnte, keine Bühnen, auf den sie sich präsentieren konnte. Wissen Sie, dass sie meinen Geburtstag meistens einfach vergessen hat?’œ (Seite 332)
Die Raumausstatterin Maja Sternberg, 41, hat aus gutem Grund ein überaus distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter, der erfolgreichen Konferenzdolmetscherin Lilli. Seit 10 Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, abgesehen von einer kurzen Zwangsbegegnung auf einer Beerdigung. In all den Jahren haben sie lediglich Weihnachtskarten ausgetauscht.
Aufgewachsen ist Maja in verschiedenen Internaten und bei ihrer Großmutter Charlotte. Seit deren Tod ist das Thema ’žFamilie’œ für sie erledigt. Umso überraschter ist sie, als Lilli eines Tages bei ihr anruft und sagt: ’žEs gibt da etwas, was ich dir sagen muss … und zeigen.’œ (Seite 15)
Maja verabredet sich mit ihrer Mutter für die folgende Woche. Doch als sie in Wien eintrifft, steht sie vor verschlossener Tür. Den Grund dafür erfährt sie von der Nachbarin Erna Buchholz: Lilli Sternberg ist tot. Sie ist vom Balkon gesprungen ’“ Selbstmord aus Angst vor Schmerzen und Siechtum. Die Kettenraucherin Lilli litt an Lungenkrebs.
Maja ist wie vom Donner gerührt. Selbstmord? Das passt so gar nicht zu ihrer Mutter. Und selbst wenn sie diese Absicht gehabt hätte … hätte sie nicht noch die paar Stunden gewartet und erst das Treffen mit ihrer Tochter hinter sich gebracht, wenn sie sie schon eigens nach Wien bestellt hat? Ob Lilli ermordet wurde? Ein Unfall kann es nicht gewesen sein, versehentlich kann man nicht über diese Balkonbrüstung fallen. Und was war es eigentlich, das Lilli ihrer Tochter so dringend mitteilen wollte?
Maja bleibt erst einmal in Wien. Die Beerdigung muss organisiert und die Wohnung aufgelöst werden. Vielleicht ergibt ja die Durchsicht des Nachlasses Hinweise darauf, was ihre Mutter in jüngster Zeit bewegt hat. Doch alles, worauf Maja stößt, ist eine Fülle von Rätseln und Ungereimtheiten. Eine Bekannte ihrer Mutter lässt ihr einen Umschlag zukommen, den diese ihr kurz vor ihrem Tod zur Aufbewahrung gegeben hat. Inhalt: Ein Schlüssel und ein Foto von Oma Charlotte mit einem Baby auf dem Arm. Das Bild trägt auf der Rückseite den Vermerk: ’žWir beide in Hohehorst, März 1944’œ.
Hohehorst? Und wer bitte ist das Kind? Lilli kann es nicht sein, denn die war ein heller, blonder Typ, und das Kind auf dem Foto ist zweifellos dunkelhaarig. Um ein älteres Kind Charlottes kann es sich auch nicht handeln, denn das Baby auf dem Foto ist maximal vier Monate älter als Lilli. Das passt zeitlich nicht.
Lillis Geburtsurkunde, die Maja im Nachlass findet, trägt zusätzlich zur Verwirrung bei. Lilli ist im Mai 1944 in Hohehorst zur Welt gekommen. Nicht in Bremen, wie sie immer gesagt hat. Und es ist kein Kindsvater eingetragen. Aber Lillis Vater war doch Paul, Charlottes erster Ehemann, der als im Krieg vermisst gilt! Opa Gustav Benthin war ’žnur’œ Majas Stief-Großvater. Ist Charlotte gar nicht mit Paul verheiratet gewesen?
So nach und nach dämmert es Maja, dass sie von ihrer Familiengeschichte rein gar nichts weiß. Hohehorst, das hat sie inzwischen herausgefunden, war ein Lebensborn-Entbindungsheim. Mit Sicherheit könnten die Lebenserinnerungen von Oma Charlotte Licht ins Dunkel bringen. Dass sie welche geschrieben hat, erfährt Maja zufällig am Telefon. Ein Verlag hat die ersten 50 Seiten davon zugeschickt bekommen und interessiert sich nun auch für den Rest. Nur hat Maja keine Ahnung, wo sich das Manuskript befindet. Und da der Verlag unwillig oder unfähig ist, ihr eine Kopie des Teils zuzuschicken, den er bereits vorliegen hat, ist auch von dieser Seite keine Aufklärung zu erwarten. Lillis Anwälte erweisen sich als ebenso unkooperativ und nutzlos.
Erst als Maja in Lillis Unterlagen einen Zeitungsausschnitt über einen 1950 verschwundenen Husumer Arzt findet, kommt ein wenig Bewegung in die Sache. Sie macht Roman Sartorius, den Sohn des Arztes, ausfindig. Vielleicht kann er ihr ja sagen, in welcher Beziehung sein Vater zu ihrer Mutter stand. Sie erfährt, dass Dr. Heinrich Sartorius von 1941 bis Kriegsende Belegarzt im Lebensborn-Heim Hohehorst war. Er muss also Großmutter Charlotte gekannt haben! Und sicher hat er auch gewusst, was es mit dem dunkelhaarigen und dem blonden Kind auf sich hat.
In Hohehorst muss Maja also ansetzen, wenn sie etwas über ihre Familiengeschichte erfahren will. Und Charlottes Manuskript muss sie finden. Das könnte das gewesen sein, was Lilli ihr kurz vor ihrem Tod noch hatte zeigen wollen. Aber das Rätsel ihrer Abstammung klärt noch immer nicht die Umstände, unter denen Lilli Sternberg zu Tode kam. Oder doch? Hängt beides zusammen?
Maja lässt nicht locker. Sie reist, sucht, recherchiert und befragt alle möglichen Zeitzeugen und Weggefährten ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Doch wer die falschen Fragen stellt, bekommt auch nicht die richtigen Antworten. Nichts, was sie im Laufe ihrer Ermittlungen erfährt, passt zu dem Bild, das sie von ihrer Großmutter hatte. Erst ein unbedacht dahingesagter Satz einer Wiener Bekannten ihrer Mutter bringt Maja auf die richtige Spur …
Die Wahrheit ist ebenso simpel wie ungeheuerlich ’“ und es gibt Leute, die würden alles tun, damit diese Wahrheit nicht ans Licht kommt.
Parallel zur Geschichte von Maja Sternbergs Spurensuche erhält der Leser Einblick in das verschollene Manuskript von Majas Großmutter. Wir erfahren die tragische Geschichte ihrer großen Liebe zu Paul, einem verheirateten Mann jüdischer Abstammung. Wir erleben mit, wie sie von ihrer Heimatstadt Königsberg ins Lebensbornheim Hohehorst bei Bremen kommt und wie sie schließlich nach traumatischen Erlebnissen allein mit Kind in Lindau am Bodensee landet. Dabei sind wir nicht wirklich klüger als Maja, die sich von diesem Manuskript Klarheit über ihre Familiengeschichte erhofft. Denn wir sitzen, ohne es zu bemerken, demselben Irrtum auf wie Maja Sternberg.
Erst ganz zum Schluss fallen die Puzzleteilchen an ihre Plätze und ergeben ein vollständiges Bild der Ereignisse während der Kriegs- und Nachkriegszeit. Und dieses Bild ist für keinen der Beteiligten schmeichelhaft. Nun erfahren wir auch, was es mit dem Titel des Buchs auf sich hat, HERBSTVERGESSENE … ein weiteres gruseliges Kapitel aus dem großen Buch der Familiengeheimnisse.
Die egozentrische Lilli und die eigenbrötlerische Maja machen es einem nicht leicht, sie zu mögen. Sympathisch an Maja ist allerdings ihre Ehrlichkeit. Sie macht sich keine Illusionen über ihre Macken und Eigenheiten. Und auch nicht über ihre Beziehungen zu Männern im Allgemeinen und die zu ihrem Lebensgefährten im Besonderen. Ob man die Hauptpersonen nun ins Herz schließt oder nicht ’“ auf jeden Fall will man eine Erklärung für all die Widersprüche in Charlottes und Lillis Biographie haben. Und so verfolgt man mit Spannung Majas Recherchen und Oma Charlottes Erinnerungen. Bis sich alles zu einem Gesamtbild fügt.
Der hollywoodreife Showdown am Ende hätte nicht unbedingt sein müssen, aber just dieser Handlungsstrang hat die Geschichte ins Rollen gebracht, und auf diese Weise findet er eben seinen übermäßig dramatischen Abschluss. Eigentlich schade ’“ und unnötig. Die Geschichte von Charlotte, Lilli und Maja wäre auch ohne diese aufgesetzte Action spannend und interessant genug gewesen.
Für alle, die in Sachen Lebensborn-Heime ähnlich unbewandert sind wie die Heldin: Das Lebensborn-Heim Hohehorst, Heim Friesland, gab es wirklich. Die Gebäude stehen noch und dienen heute als Therapiezentrum für Drogenabhängige. Hier ein paar Aufnahmen aus dem Jahr 2010:
Herrenhaus Hohehorst, Schwanewede
Zufahrt mit Torhäusern.
Laternenaufsätze der Torpfeiler.
Foto: Quarz. Die Bild-Dateien wurden unter der Lizenz ’žCreative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen Deutschland’œ in Version 3.0 (abgekürzt ’žCC-by-sa 3.0/de’œ) veröffentlicht.
Die Autorin
Anja Jonuleit, 1965 in Bonn geboren, ist Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie lebte und arbeitete in New York, Bonn, Rom, Damaskus und München. 1994 kehrte sie mit ihrer Familie an den Bodensee zurück. Sie ist Mutter von vier Kindern. Ihren ersten Roman DAS WASSER SO KALT veröffentlichte sie 2007. HERBSTVERGESSENE ist ihr zweiter Roman.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http:// edithnebel.wordpress.com
Liebe Edith,
allein Deine Rezension ist bühnenreif! Denn sie ist es nun, die mich ab der ersten und bis zur letzten Zeile neugierig auf das Werk gemacht hat – und es mich in den Amazon-Einkaufswagen legen lassen hat. 😉
Danke dafür!
Herzlich,
Coralita
Dankeschön!
Aber, wie gesagt, den Schluss des Romans hätte etwas weniger hollywoodlike sein dürfen … sonst war’s spannend, informativ und unterhaltsam.
Tolle Rezension, sie macht richtig neugierig. Ich habe das Buch schon mal auf die Must-Read-Liste gesetzt. Aber wann ich auch wirklich mal dazu komme, es zu lesen, ist eine andere Frage. *seufz* Ich bewundere es, wie du es hinkriegst, über so viele Bücher auch noch zu schreiben.