Nina Blazon: Wolfszeit, Historischer Thriller, ab 14

Nina Blazon: Wolfszeit, Historischer Thriller, ab 14, Ravensburg 2012, Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, ISBN 978-3-473-40070-6, 567 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, mit einer Landkarte von Gottfried Müller, Format: 21,6 x 15 x 4,8 cm, EUR 17,99 (D), EUR 18,50 (A).

Frankreich 1765: In Versailles tobt das höfische Leben. Es wird intrigiert, taktiert und politisiert, und jeder versucht, sich so gut wie möglich beim König einzuschmeicheln. Unterdessen trauen sich im Gevaudon, im Languedoc, die Leute kaum mehr aus dem Haus. Eine Bestie geht um und reißt vorzugsweise SchäferInnen. Die sind leichte Beute: Frauen und Kinder, die irgendwo alleine in der Einöde ihre Tiere hüten.

Ein Wolf soll es sein, der da sein Unwesen treibt. Aber enthauptet ein Wolf Menschen? Augenzeugen beschreiben das Tier auch eher wie eine Hyäne. Das findet zumindest Homas Auvray, Schüler der königlichen Zeichenakadamie und Assistent des Naturforschers Georges-Louis de Buffon.

Zu gerne würde Thomas mit auf Bestienjagd gehen und das Tier mit eigenen Augen sehen. Die Pläne, die sein Vater, der ehrgeizige und manipulative Handschuhfabrikant Charles Auvray, mit ihm hat, erscheinen ihm vergleichsweise unattraktiv: Er soll in eine einflussreichen Familie einheiraten. An der vom Vater ausersehenen Braut, Claire de Tremins, hat er nicht das geringste Interesse.

Der König will, dass die Sache mit der Bestie endlich ein Ende hat. Und Thomas schafft es tatsächlich, dass man ihn zur Jagd mitnimmt, allerdings nur als Sekretär von Monsieur Antoine, dem Zweiten Jäger des Königs. Für voll nimmt den Studenten keiner. Außer zeichnen kann er ja nichts. Und das ist ja auch alles was er will: Ein Bild von der Bestie!

Sobald sich eine Gelegenheit bietet, macht Thomas sich auf die Suche nach Augenzeugen. So trifft er auf den Maultierführer Bastien Chastel, dessen Familie in La Besseyre-Saint-Mary eine Gastwirtschaft betreibt. Bastien hat eines der Opfer zurück ins Dorf gebracht. Doch die Bestie selbst hat er nicht gesehen.

Stationiert ist die vom König autorisierte Bestien-Jagdgesellschaft im Chateau de Besset. Dort begegnet Thomas der völlig verstörten Schwester des Marquis Jean-Joseph d‘Apcher, Isabelle. Sie wurde von der Bestie angefallen, als die Familie Chastel besuchen wollte, die sie seit Kindertagen kennt. Und sie hat überlebt. Allerdings verschweigen ihre Angehörigen, was der jungen Adeligen zugestoßen ist, gilt doch ein Angriff der Bestie als eine Strafe Gottes für begangene Sünden.

Schon wieder die Chastels! Irgendwie ist die Familie seltsam. Das findet nicht nur Thomas. Sie wirken abweisend und geheimniskrämerisch, sind überängstlich und streng, was die attraktive rothaarige Tochter Marie angeht, und alle sind gegen den aggressiven und launischen Sohn Bastien, der mit einer Behinderung aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Nicht einmal seine Mutter verteidigt ihn gegen die Angriffe seiner Brüder und seines Vaters!

Auch beim Marquis d’Apcher und seiner Familie ist einiges sonderbar. Die Geschwister Jean-Joseph und Isabelle sind wie Feuer und Wasser. Nach dem Tod der Mutter sind sie bei verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen. Jean-Joseph ist sehr kultiviert, französisch und streng katholisch, die schwarzhaarige Isabelle ist wild, spricht okzetanisch wie die Bauern und ist der keltischen Kultur samt deren (Aber-)Glauben zugetan.

Belle, das Rabenmädchen, nennt Thomas die Schwarzhaarige in Gedanken, und lässt keine Gelegenheit aus, mit ihr in Kontakt zu treten, mag die Familie sie noch so sehr abschotten. Das tut er nicht nur, weil sie vielleicht etwas über die Bestie weiß, sondern weil er von der rassigen Schönheit fasziniert ist.

Etliche Nachforschungen, tote Menschen und erlegte Wölfe später nimmt man einen unheimlichen alten Mann fest, der gruselige keltische Bräuchen pflegt. Er soll angeblich einen großen schwarzen Wolf auf seine Mitmenschen gehetzt haben. Thomas Auvray glaubt nichts davon. Der alte Mann passt einfach nicht ins Raster. Und die Bestie war auch ganz bestimmt kein Wolf.

Zu gerne würde Thomas noch weiter ermitteln. Doch durch einen dummen Zufall kommt er einem lange gehüteten Geheimnis auf die Spur, das ein paar einflussreichen Personen sehr schaden könnte. Und nun kann man ihn gar nicht schnell genug loswerden. Durch eine gezielte Intrige wird dafür gesorgt, dass Thomas sich im Gevaudon nicht mehr sehen lassen kann.

Nun ist unser Student wieder da, wo er am Anfang der Geschichte stand: zurück in Versailles, unter der Fuchtel seines Vaters und unter dem Druck, Claire de Tremins heiraten zu müssen. Da erhält er eine Nachricht von Isabelle d’Apcher: Die Bestie mordet wieder!

Thomas lässt in Versailles alles stehen und liegen und eilt ins Gevaudon. Doch er kommt zu spät: Isabelle ist in der Gewalt des Herrn der Bestie. Wird Thomas sein Rabenmädchen retten können? Ein Kinderlied bringt ihn auf die richtige Spur. Das denkt er zumindest …

Das ist nur ein Teil des Romanpersonals, das im Umfeld der Bestie ihre eigenen Interessen verfolgt. Die Geschichte ist recht vielschichtig und komplex, aber so war sie nun mal. Das ist kein Werwolf-Schmonzes, das ist ein historischer Thriller. Viele der Romanfiguren hat es tatsächlich gegeben und auch die Sache mit den Bestien-Angriffen ist real. Zwischen 1764 bis 1767 soll sie 102 Menschen gerissen haben.

Wolf of Chazes, shot by M. François Antoine de Beauterne, displayed at the court of Louis XV. Datum: etwa 1765, Quelle: Unnamed French Periodica. Diese Bild- oder Mediendatei ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für die Europäische Union, Australien und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers.

Natürlich hat sich die Autorin die Freiheit genommen, ein paar fiktive Gestalten einzufügen und die Handlung etwas zu vereinfachen, wie sie uns im Anhang des Buchs erklärt: „Um Dopplungen zu vermieden – denn in diesem Fall ist das Personal des Romans groß genug -, habe ich zudem einige Vornamen verändert. Denn damals scheint jedes zweite Mädchen Jeanne oder Marie geheißen zu haben.“ (Seiten 567/568). Auch das Personenverzeichnis am Anfang erleichtert den Überblick. Allerdings braucht man schon rund 150 Seiten, bis man all die Antoines, Adrians, Auvrays, l’Averdys und d’Apchers auseinanderhalten kann. Da kann einem schon mal ein wichtiger Hinweis entgehen …

„Im Roman ging es mir nicht darum, den Fall von A bis Z zu rekonstruieren, sondern im Rahmen einer Ermittlergeschichte einige der Theorien näher zu beleuchten, die mir selbst am wahrscheinlichsten erschienen“, erklärt Nina Blazon (Seite 564). Das ist ihr auf eindrucksvolle Weise gelungen! Auch wenn Aberglauben und Ammenmärchen in dem Band allgegenwärtig sind, bleibt die gruselige Geschichte immer realistisch. Was damals wirklich geschah, wird man nie erfahren. Aber Nina Blazons Interpretation des historischen Stoffs klingt plausibel. Die Geschichte hat schon viele Journalisten, Autoren, Dokumentar-, Kino- und Fernsehfilmmacher inspiriert, und jedes Mal war Rätsels Lösung eine andere.

Wer noch mehr wissen will: Auf der Seite http://www.ninablazon.de gibt’s weitere Hintergrundinformationen. Ein ausführliches „Making-of“ und Bilder der Recherchereise sind angekündigt.

Dass der Roman ein Jugendbuch ist, merkt man eigentlich nur am jugendlichen Alter des Helden Thomas. Diesen spannenden historischen Thriller kann man wunderbar auch als erwachsener Mensch lesen. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn man bei diesem gruseligen und düsteren Stoff schon ein bisschen leseerfahren und abgebrüht ist.

Die Autorin
Nina Blazon, geboren 1969, studierte Slawistik und Germanistik. Anschließend unterrichtete sie an mehreren Universitäten und arbeitete als freie Journalistin. Seit 2003 schreibt sie Fantasy, Krimis und historische Romane für Kinder und Jugendliche. Die Autorin lebt und arbeitet in Baden-Württemberg.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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