Nachrichten aus der Zukunft

Meine Kindheit war schwarz-weiß. Von phantasievoll gezacktem weißem Bildrand umgeben füllten die Kinderfotos gerade mal ein halbes Fotoalbum. Bis mein Onkel in den Ruhestand ging und auf die Idee kam, seine im Lauf von Jahrzehnten entstandene Diasammlung zu sortieren.

Bei einer Familienfeier im Haus meiner Eltern überreichte er mir eine Handvoll farbiger Papierabzüge von Diapositiven aus den 60-er Jahren. Kinderbilder. Familienfotos. Haus und Garten. Die Wirkung war verblüffend: Die Farben waren gut erhalten und kein bisschen verblasst. Die Fotos sahen aus, als seien sie gestern erst entstanden.

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Ich sah mich als Kleinkind auf dem Gartenpfeiler sitzen. Meine Mutter stand eine Armeslänge entfernt von mir in unserem Garten. Ich im gelben Rüschenkleid, sie im adretten Kostümchen. Sie war damals jünger als ich heute.

Der Pfeiler und das Gartentor sind jetzt immer noch die selben wie damals. Das Haus wurde zwischenzeitlich mehrfach umgebaut und wiederholt neu gestrichen. Im Hintergrund des Fotos sieht man noch freies Feld, wo heute eine ganze Siedlung steht. Es war der selbe Ort, die selben Menschen wie heute … und doch nicht. Es war unheimlich.

Wenn ich nun die Hand ausstrecken und wie durch ein Tor in die damalige Zeit eintreten könnte ….? In dieses Bildmotiv? Würde meine Mutter mich erkennen, wenn ich sie grüßen und ansprechen würde? Man sagt doch, ich sähe aus wie sie. Es müsste ein komisches Gefühl sein, der eigenen Mutter als Altersgenossin gegenüber zu stehen. Würden wir uns verstehen? Oder würden wir nichts miteinander zu tun haben wollen? Haben wir nur Kontakt, weil wir zufällig Mutter und Tochter sind?

Was hätte ich ihr sagen können? Was hätte ich ihr aus heutiger Sicht sagen m ü s s e n ?

»Ich komme aus der Zukunft und möchte dir nur sagen: Auch wenn‘s manchmal schlimm aussieht mit dem Kind: Es kommt alles ins Lot. Und: Kauft der Kleinen Lego, auch wenn es ein Mädchen ist. Sie baut gern. Sie hat irgendwie das Hausbau-Gen geerbt, das sonst nur die Männer der Familie befällt. Sie wird immer von Bauwerken träumen und Häuser lieben. Ach ja … und bringt die Kleine mal zum Augenarzt. Wartet nicht damit, bis ein Lehrer merkt, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Sonst wird sie auf einem Auge die Sehkraft verlieren.«

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Komisch, dass mir das Häuserbauen jetzt wichtiger ist als die Sache mit den Augen. Egal. Meine Mutter hätte mir sowieso nicht geglaubt. Zeitreisen! Schmarrn! Im Geiste höre ich sie lachen. Sei‘s drum. Man soll sich sowieso in keine Erziehung einmischen. Nicht mal in die eigene.

Aber ich selbst hätte mich doch an ein paar kritischen Punkten in meinem Leben warnen können! Damals, in Kärnten zum Beispiel, als ich als Achtjährige beschloss, so weit wie nur möglich in den See hinaus zu schwimmen. Das wäre so ein Moment, an den ich gerne zurück reisen und meinem jüngeren Ich warnend zurufen würde: »Denk dran, dass du auch wieder retour schwimmen musst! Teil dir deine Kräfte ein. Wenn sie dich verlassen, gehst du unter, und man wird dich retten müssen. Und du wirst lebenslang Angst vor Wasser haben.«

Ob ich heute tauchen könnte, wenn diese Warnung gefruchtet hätte? Die Unterwasserwelt hat mich immer fasziniert, aber die Angst ist stärker.

Durch Schulzeit und Studium hindurch hätte ich mich unbeeinflusst wursteln lassen. Ein paar Dummheiten müssen sein im Leben. Man lernt ja daraus. Vielleicht wäre ein dezenter Hinweis hilfreich gewesen, dass etwas mehr Engagement in Französisch nicht schaden könne, da wir in wenigen Jahren französisch sprechende Verwandte haben würden.

Danach wird‘s schwierig. Sollte ich mich selbst vor einem bestimmten Job warnen? Oder nur vor dem Mann, den ich dort kennen lernen würde? »Mach die Arbeit, aber geh dem Typen aus dem Weg. Der hat eine massive Macke und wird dich sehr schlecht behandeln. S e h r schlecht, hörst du? Das kannst du dir jetzt noch gar nicht vorstellen. Wenigstens dauert das Martyrium nicht ewig – er wird bald sterben. Aber du wirst in 20 Jahren noch Alpträume von ihm haben.«

Würde ich auf mich hören … auf die Stimme aus der Zukunft? Ich weiß es nicht.

Wäre es überhaupt sinnvoll, meine alten Fehler zu vermeiden? Wäre ich heute da, wo ich bin, wenn ich diese Erfahrungen nicht gemacht hätte? Wäre ich die, die ich bin? Und vor allem: Wäre ich glücklicher? Oder schätzt man die Normalität des Alltags erst dann so richtig, wenn man aus der Hölle kommt?

Man müsste die verschiedenen Möglichkeiten einmal theoretisch durchspielen können: Was wäre geworden, wenn … ? Und danach die Weichen der Vergangenheit neu stellen. Aber das gibt es alles nur in Science fiction Romanen und alten Superman-Comics. Wir hier in der Wirklichkeit müssen unser Leben eben so leben, wie wir es gestaltet oder verunstaltet haben.
Wir können nicht nachbessern.

Die Farbabzüge der alten Dias kleben nun bei den schwarz-weiss-Fotos im Album. Sie sind in ihrer frischen Farbigkeit ein Fremdkörper dort … ein immer noch unheimlicher Gruß aus der Vergangenheit.

Autor: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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