Chris Cleave: Little Bee – Roman

Chris Cleave: Little Bee – Roman, OT: The Other Hand, aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg, München 2011, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24819-8, Softcover/Klappenbroschur, 316 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 3 cm, EUR 14,90 (D) EUR 15,40 (A).

Gerade mal 14 Jahre alt ist die kleine Nigerianerin, als sie miterleben muss, wie ihr Dorf niedergebrannt und die Bewohner getötet werden. Eine Ölfirma will das Land und hat zu diesem Zweck ein Killerkommando losgeschickt. Wie durch ein Wunder entkommen die Kleine und ihre ältere Schwester. Ziellos flüchten sie durch den Dschungel, bis sie am Ibeno Beach auf das britische Journalistenehepaar Sarah und Andrew O’Rourke treffen.

Andrew glaubt nicht, dass die Mädchen in tödlicher Gefahr sind – bis die Männer auftauchen, die den beiden unliebsamen Zeuginnen ans Leder wollen. Der Anführer des Killerkommandos – ein Mann, der in England studiert hat – lässt sich mit den Briten auf eine bizarre Diskussion ein. Geld will er nicht. Aber wenn sie sich mit seiner Machete einen Finger abschneiden, lässt er die Schwestern leben. Andrew weigert sich, Sarah tut’s – jedoch vergebens. Die Mörderbande schleppt beide Mädchen weg.

Sarah steckt dieses schreckliche Erlebnis leichter weg als ihr Mann. Sie hat alles versucht, die Mädchen zu retten. Andrew hat das Gefühl, versagt zu haben. Ihm wird die Diskrepanz klar zwischen dem, was er denkt, sagt und schreibt und dem, was er zu tun bereit ist. Aus der Grübelei und den Selbstvorwürfen rutscht er in eine tiefe Depression.

Was die O’Rourkes nicht wissen: Die jüngere der beiden Schwestern, die sich jetzt Little Bee nennt, hat überlebt. An Bord eines britischen Frachtschiffs ist sie illegal nach Großbritannien eingereist und sitzt seit zwei Jahren in einem Abschiebegefängnis in Essex. Sie macht sich Hoffnungen, im Land bleiben zu können. Wer schön aussieht oder schön sprechen kann, der müsste doch Chancen haben! Schön auszusehen birgt Risiken für eine Frau. Also beschließt Little Bee, sich in unförmige Kleiderspende-Klamotten zu hüllen und sich mit Hilfe von Radio und Zeitungen ein gepflegtes Englisch anzueignen.

Weil ihre jamaikanische Mitgefangene Yevette einen der Wachbeamten rangelassen hat, lässt er sie frei – und mit ihr Little Bee und zwei weitere Frauen, damit es nicht so auffällt. Es dauert eine Weile, bis den vieren dämmert, dass der Beamte nur ein Häkchen im Computer gemacht hat und sie deswegen draußen sind. Papiere haben sie immer noch nicht. Sie sind nach wie vor von der Abschiebung bedrohte Illegale.

Eines der wenigen Dinge, die Little Bee aus Nigeria mitgebracht hat, ist der Führerschein von Andrew O’Rourke. Den hat er damals am Strand verloren. Weil Bee sonst niemanden im Land kennt, schlägt sie sich zu Fuß nach London zu den beiden Journalisten durch. Nach einigen staunenswerten Begegnungen mit den Briten und dem Leben in einer europäischen Großstadt steht Bee schließlich bei den O’Rourkes vor der Tür – und kommt gerade rechtzeitig zu Andrews Beerdigung. Er hat sich erhängt.

Sarah ist verblüfft über Little Bees Auftauchen und quartiert sie bei sich ein. Zu großen Gefühlen ist sie derzeit nicht fähig. Sie kann nicht einmal um ihren Mann trauern. Was daran liegen mag, dass die Ehe schon lange am Ende war und das ganze ein Abschied auf Raten.

Sarahs Sorge gilt ihrem vierjährigen Sohn Charlie, den sie seit Monaten beharrlich weigert, etwas anderes zu tragen als Batman-Kostüme. Nur so fühlt er sich sicher und dem ständigen Kampf gegen „die Bösen“ gewachsen.

Kaum ist der Ehemann unter der Erde, steht Lawrence bei Sarah auf der Matte. Mit ihm – einem verheirateten Familienvater und mäßig erfolgreichen Mitarbeiter des Innenministeriums – hat sie seit zwei Jahren ein Verhältnis.

Lawrence ist ungehalten darüber, dass eine illegale Immigrantin bei Sarah wohnt. Er sieht in Little Bee eine Konkurrenz um Sarahs Aufmerksamkeit und eine Gefahr für die Karriere. Am liebsten würde er das Mädchen bei den Behörden verpfeifen. Aber Bee hat ihn in der Hand: Wenn sie seiner Frau erzählt, dass er nicht auf Dienstreise ist, sondern bei seiner Geliebten, ist seine Ehe Geschichte. Und das will Lawrence auf gar keinen Fall.

Sarah ist von der Idee besessen, Little Bee zu einer Aufenthaltserlaubnis zu verhelfen. Zum einen fühlt sie sich schuldig, weil sie Bees Schwester nicht retten konnten, zum anderen möchte sie etwas Bedeutungsvolles tun, das sie Welt ein bisschen besser macht. Als Journalistin ist ihr das bislang nicht gelungen. Ihr Job als Chefredakteurin bei einer Frauenzeitschrift ist eher oberflächlicher Natur. Lawrence hält das alles für ausgemachten Blödsinn, doch Sarah lässt sich nicht davon abbringen.

Da verschwindet der kleine Charlie, und das Unheil nimmt seinen Lauf …

So linear ist die Geschichte im Buch nicht erzählt. Abwechselnd berichten Little Bee und Sarah von ihrem Leben und ihren Erinnerungen. Erst nach und nach erfährt man, wie das alles zusammenhängt.

Little Bees Ausführungen sind besonders faszinierend – nicht nur, weil ihre Geschichte so fesselnd und berührend ist, sondern weil sie alles mit den Augen eines Mädchens aus einem entlegenen afrikanischen Dorf sieht. Ständig überlegt sie, wie sie ihre Erlebnisse in Großbritannien den Mädchen zu Hause erklären könnte, die ja einen ganz anderen Erfahrungshorizont haben. Für die Girls daheim wäre schon das Phänomen eines barbusigen Mädchens in der Zeitung unbegreiflich. Warum schämt das Fotomodell sich nicht, wo es doch niemals so auf die Straße gehen würde? Und weshalb fürchten sich Europäer freiwillig, indem sie sich Horrorfilme ansehen, wo das Leben selbst doch voller Angst und Schrecken ist? Auch für das Gewusel auf einer Autobahn hätten sie keinerlei Verständnis. Wenn die Europäer auf den Feldern in der Nähe ihrer Häuser arbeiten würden, müssten sie nicht dauernd von A nach B fahren!

Bee selbst staunt über Sarahs Eismaschine: „Ihr werdet lachen, aber ich sah zum ersten Mal, dass Wasser fest werden kann. Es war wunderschön – denn wenn das mit Wasser möglich war, war es vielleicht auch mit allem anderen möglich, das ständig entfloh und versickerte und in Sand oder Nebel verschwand. Alles könnte wieder fest werden, ja sogar die Zeit, in der ich mit Nkiruka im roten Staub unter der Schaukel spielte. In jenen Tagen glaubte ich, solche Dinge wären in eurem Land möglich. Ich wusste, dass große Wunder auf mich warteten, wenn ich nur die Mitte, die Quelle all dieser Wunder entdecken könnte.“ (Seite 158)

Für ein ungebildetes Mädchen aus einem kleinen Dorf in Afrika sagt sie erstaunlich Philosophisches und Poetisches. Erkenntnisse wie „Ich sage dir, Leid ist wie der Ozean: Es bedeckt zwei Drittel der Erde“ (Seite 167) traut man ihr vielleicht noch zu. Doch bei ihren Überlegungen zur Zukunft und zur Perspektivlosigkeit ihres Heimatlandes merkt man schon deutlich, dass man es mit einer Kunstfigur zu tun hat: „Wie kann man ohne Licht seine Sehfähigkeit bewahren? Wie kann man ohne Zukunft die Vision einer Regierung bewahren? In meiner Welt können wir uns noch so sehr bemühen. (…) Doch wenn die Dämmerung kommt (…) verschwindet unsere Welt. Sie kann nicht über den Tag hinaus blicken, weil ihr das Morgen mitgenommen habt, Und weil Ihr das Morgen vor euren Augen habt, könnt ihr nicht sehen, was heute geschieht.“ (Seite 218)

Auch wenn Little Bee eher wie eine literarische Stimme Afrikas klingt als wie ein reales 16-jähriges Flüchtlingsmädchen aus einfachsten Verhältnissen, verfolgt man mit Spannung ihr Schicksal und ihre aufschlussreichen Gedankengänge, schließt sie ins Herz und wünscht ihr eine glückliche Zukunft.

Die Journalistin Sarah O’Rourke wirkt schon eher wie ein realer Mensch: ein cleveres Mädchen aus der Provinz, das einen sehr guten Job ergattert hat und nun auf hohem Niveau unzufrieden ist. Manchmal stur, manchmal schwach, manchmal überfordert mit der familiären Situation. Die hehren Ziele, die sie zu Beginn ihrer journalistischen Laufbahn hatte, sind unterwegs auf der Strecke geblieben. Und sie hat den falschen Mann geheiratet. Man muss nicht alles gutheißen, was sie denkt und tut. Aber sie kennt ihre Fehler und ist diesbezüglich ehrlich zu sich und dem Leser. Damit macht sie wieder einiges an Boden gut.

Über die Männer in dem Roman deckt man besser den Mantel des Schweigens. Selbstgerechte Jammerlappen, einer wie der andere!

Wer bis jetzt noch keine Veranlassung sah, sich für die ethnischen und ölbedingten Konflikte in Little Bees Heimat Nigeria zu interessieren oder sich mit dem Thema Asyl und Abschiebung zu befassen, dem bietet dieses Buch vielleicht den richtigen, äh, Aufhänger. Wie Sarah werden wir nicht im Alleingang die Welt verbessern können. Aber wenn viele Bescheid wissen und genauer hinsehen ist das schon mal besser als kollektives Unwissen und Desinteresse.

Die Verfilmung
Man hört, dass es sechs verschiedene Interessenten für die Filmrecht an ´LITTLE BEE“ gegeben habe und dass Nicole Kidman mit ihrer Firma BLOSSOM FILMS den Zuschlag erhalten hat. Sie wird den Film für die BBC produzieren. Und sie will die Sarah spielen. Sie ist ja auch nur 11 Jahre älter als die Frau in dem Buch. Ist ihr Gesicht überhaupt noch zu einer Mimik fähig?

Der Autor
Chris Cleave schreibt für den englischen GUARDIAN und lebt mit Frau und Kindern in London. LITTLE BEE, sein zweiter Roman, ist ein internationaler Bestseller. Er wurde in 23 Länder verkauft und für verschiedene Preise nominiert.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
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