Gina Mayer: Das Maikäfermädchen – Roman

Gina Mayer: Das Maikäfermädchen – Roman, Berlin 2012, Rütten & Loening (Aufbau-Verlag), ISBN 978-3-352-00843-6, Klappenbroschur, 365 Seiten, Format: 21,6 x 12,6 x 2,4 cm, EUR 16,99.

„(…) Jetzt saß Gertrud in Chicago und schickte Pakete mit Schokolade, Waschmittel und Seidenunterwäsche nach Deutschland. (…) ‚Ich plane, bald wieder zu heiraten’, hatte sie Käthe in ihrem letzten Brief mitgeteilt. Und Käthe saß im zerbombten Düsseldorf und wusste nicht einmal, ob ihr Mann noch am Leben war, und tötete ungeborene Kinder, um selbst zu überleben, und plante gar nichts.“ (Seite 255)

Düsseldorf, November 1945: Käthe Arensen, verheiratet, kinderlos und im mittleren Alter, haust in einer Dachkammer und schlägt sich als Hebamme in der zerbombten Stadt durch. Ihr Mann Wolf ist in russischer Kriegsgefangenschaft oder auch bereits tot, wer weiß das schon? Seit über einem Jahr hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Es ist, als sei Deutschland durch den Krieg in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückgefallen. Allenthalben herrscht Hunger und Mangel und ein rücksichtsloser Kampf um die Ressourcen.

Als Käthe in einer endlos langen Schlange um Reis und Graupen ansteht und dem Spiel eines kriegsversehrten Leierkastenmanns zuhört, fängt plötzlich eine junge Frau an, mitzusingen:„Maikäfer, flieg. Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.“

Diese junge Frau, Ingrid, die ebenso gut zwölf wie fünfundzwanzig Jahre alt sein könnte, spricht Käthe schließlich an und schlägt ihr einen Handel vor: Die Hebamme bekommt ihren Pelzmantel, wenn sie ihr das Kind wegmacht. Käthe, christlich geprägt, will spontan ablehnen. Doch ein Pelzmantel ist auf dem Schwarzmarkt eine Menge Lebensmittel wert. Schließlich ist der Hunger stärker als alle moralische Skrupel.

In einem zerbombten Haus in der Marktstraße gibt es noch Überreste einer gynäkologischen Praxis. Dort nimmt Käthe den Abbruch vor. Sie vergattert Ingrid zum strengsten Stillschweigen, denn daran, dass ihr nun jeden Tag verzweifelte Frauen auf der Matte stehen und sie um einen illegale Abtreibung anflehen, hat sie kein Interesse. Das klappt natürlich nicht. Es dauert nicht lange, da kommt die nächste.

Als Lilo Hambach, Käthes Ex-Kollegin, von der Sache Wind bekommt, ist an einen Ausstieg gar nicht mehr zu denken. Lilo ist wesentlich härter und pragmatischer als Käthe und sieht in einer Abtreibungspraxis eine Möglichkeit, ihre Familie durchzubringen: ihren Mann Erich, der mit einer schweren psychischen Störung aus der englischen Kriegsgefangenschaft kam und nicht mehr als Frauenarzt praktizieren kann, und ihre beiden Teenager-Kinder, die aufmüpfige Hilde und den optimistischen Gerd.

Lilo nimmt also das Ruder in die Hand. Ein guter Bekannter von ihr, der polnisch-jüdische KZ-Überlebende Schimanek, hat einen Kellerraum, der sich gut als Praxis eignen würde. Und der britische Sergeant Samuel Winston, dem sie Deutschunterricht gibt, kann alles beschaffen, was nicht angenagelt ist, unter anderem Medikamente. Die Patientinnen werden nun nicht mehr zum Stillschweigen verdonnert. Im Gegenteil: Sie sollen die Kunde verbreiten, dass hier eine Engelmacherin am Werk ist, die ihr Handwerk versteht.

Das Geschäft floriert. Und in einer Gemeinschaft von Hungernden fallen die Satten auf. So ein gut gehender, illegaler Betrieb weckt Begehrlichkeiten und ruft Trittbrettfahrer und Erpresser auf den Plan …

Es ist schon geradezu erschreckend, wie lebendig Gina Mayer die damalige Zeit für uns Nachgeborene werden lässt. Den täglichen Kampf ums Überleben, die Angst und Sorge um die Angehörigen, den Umgang mit entsetzlichen Dingen, die man erlebt oder gar getan hat. Und da sind die Strategien sehr unterschiedlich. Dr. Erich Hambach flüchtet sich in deprimiertes Schweigen und in eine psychosomatische Erkrankung. Seine Familie hat nicht den Hauch einer Ahnung, was ihm so zu schaffen macht, weil er nicht mit ihr spricht.

Seine Frau Lilo Hambach hält sich nicht mit Sentimentalitäten und theoretischen Betrachtungen über gut und böse, richtig und falsch auf. Was vorbei ist, ist vorbei, was getan werden muss, wird getan, basta. Irgendwie muss das Leben ja weitergehen. Das hier ist ein typischer Dialog zwischen Lilo und Käthe:
„Du meinst, es war falsch, wie wegzuschicken?“, flüsterte Käthe.
„Natürlich war es falsch“, gab Lilo zurück. „Aber wenn wir ihr geholfen hätten, wäre es ebenso falsch gewesen.“
(Seite 194)

Wenn man es ohnehin nicht richtig machen kann, braucht man sich Fragen nach der Moral gar nicht erst zu stellen. Käthe dagegen, die bei einem Bombenangriff nur ihren Hebammenkoffer und die Bibel gerettet hat, sucht immer noch ein wenig Halt im Glauben. Dabei nutzt sie die Bibel eher so, wie die Leute heute das Zeitungshoroskop: Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bibelstellen dienen ihr als Losung des Tages – allerdings nur, wenn sie ihr in den Kram passen. Zeitweise fragt sie im Geiste auch ihren abwesenden Mann um Rat, in wichtigen und in banalen Angelegenheiten. Das hat sie so sicher nicht getan, als sie noch zusammen lebten. Auch in dieser Beziehung blieb einiges unausgesprochen. Wolf Arensen ist schon einmal verheiratet gewesen, doch über seine „Erstfamilie“ hat Käthe nie etwas hören wollen. Ein Fehler, wie sich herausstellen wird. Hätten sie offen über seine Vergangenheit geredet, wäre vieles ganz anders gekommen …

Die Frauen in Gina Mayers Romanen sind meist stark bis abgebrüht. Und die Männer lavieren sich ohne großen Plan irgendwie durch – wenn sie denn überhaupt wissen, was sie wollen. Das ist hier nicht anders. Einen männlichen Sympathieträger gibt es allerdings: Schimanek, der den beiden Frauen die Kellerräume für die Praxis vermietet. Eine Schönheit ist er nicht: „Ein Mann, der recht groß war, aber klapprig wie ein Skelett und bleich wie der leibhaftige Tod und kahl wie ein Baum im Winter. Das war Schimanek.“ (Seite 100) Aber er ist freundlich, ehrlich, hilfsbereit und schätzt klare Verhältnisse. Man hätte ihm von Herzen mehr Glück im Leben gegönnt.

Schimanek gelingt es, über seine Vergangenheit zu sprechen und so einigermaßen damit klarzukommen — was für ein Opfer vermutlich auch leichter ist als für einen Täter. Wer schuldlos in die Katastrophe geschlittert ist, muss sich und anderen ja nichts vormachen. Wer schuldig wurde, mag oft gar nicht daran rühren.

Aus der sicheren Entfernung mehrerer Jahrzehnte zu urteilen ist sicher leicht, aber nicht immer fair. Moral ist etwas, das man sich erst einmal leisten können muss. Wenn es ums nackte Überleben geht, so zeigt uns die Geschichte, ist sie ein entbehrlicher Luxus. Da sollten wir uns keine Illusionen machen.

DAS MAIKÄFERMÄDCHEN ist nicht nur spannende Unterhaltung, sondern personifizierte Zeitgeschichte, die dem Leser so manche Erkenntnis beschert.

Die Autorin:
Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Bevor sie freie Autorin wurde, arbeitete sie als Werbetexterin.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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